Deutsche Filme waren 2021 sehr präsent auf der Berlinale – sogar im internationalen Wettbewerb. Dies war nicht immer so. Daher wurde speziell die Sektion „Perspektive Deutsches Kino“ geschaffen, in der auch drei Dokumentarfilme liefen, die hier besprochen werden.
DDR-Alltag im Spiegel von Balletttänzern: „In Bewegung bleiben“
Ein starkes Stück deutsch-deutscher Geschichte erzählt Salar Ghazi in seinem schwarzweißen Dokumentarfilm „In Bewegung bleiben“. In acht Kapiteln erzählt er aus dem Leben der Balletttruppe an der Komischen Oper Berlin im Ostberlin Ende der 1980er Jahre. Die junge Choreografin Birgit Scherzer feierte mit dem Stück „Keith“ im Januar 1988 ihren Durchbruch. Sieben Tänzer bewegen sich dabei dynamisch zur Musik von Keith Jarrett. Innerhalb eines Jahres nutzten Birgit Scherzer und vier der sieben Tänzer verschiedene Gelegenheiten zur Flucht in den Westen.
Staatliche Gängelung und Überwachung
In intensiven Interviews, die mit statischer Kamera aufgenommen sind, rekonstruieren sie ihre Karrieren im Osten, ihren Alltag an der Komischen Oper, die Überlegungen für die Flucht und die Repressalien der Staatsorgane der DDR. Die meisten von ihnen arbeiten bis heute im künstlerischen Feld. Deutlich wird die genaue Planung der Einstellungen, wenn an der See ein Protagonist zurückgeschickt wird, um die Einstellung perfekt drehen zu können.
Künstler:innen mit Privilegien
Die Zeitzeug:innen und ihre Geschichten sind so intensiv, dass sie den Film – der immerhin fast zweieinhalb Stunden lang ist – mühelos tragen. Es sind durchgehend starke Persönlichkeiten, die gut erzählen können. Die meisten stammen aus Arbeiterfamilien, erhalten aber schon früh eine Ausbildung als talentierte Tänzer:innen und werden dann auch sofort übernommen an die großen Häuser.
Mauerfall als Erlösung
Sie haben eine privilegierte Stellung mit Gastreisen in die ganze Welt. Ihre Familien sind das Pfand, damit sie wieder zurückkommen. Von daher wird ihr Alltag immer gespiegelt mit ihren Erfahrungen im Westen. Viele entschließen sich trotzdem zur Flucht, einige kommen reumütig zurück. Das macht diesen Film zu einer deutsch-deutschen Geschichte. Im Abspann sieht man die Held:innen des Filmes und das Team in Farbe.
Existenzkämpfe in Georgien: „Instructions for Survival“
Gleich die ersten Aufnahmen aus dem georgischen Fernsehen machen klar, welch eine homophobische Stimmung dort herrscht. Viele hassen dort Schwule, Lesben und Transsexuelle und aufgestachelt von dem Mob, sind sie auch bereit, sie auszulöschen.
Stigma Transgender
Dies ist die Stimmung, in der Alexander mit seiner Frau leben muss. Der Film „Instructions for Survival“ von Yana Ugrekhelidze begleitet das Paar über einen langen Zeitraum. Alexander wurde als Frau geboren und in seinem Pass steht dies als sein Geschlecht. Dabei lebt er schon lange als Mann und hat mit Hilfe der Trans-Community eine Transition mit einer Hormontherapie begonnen. Er lebt im Verborgenen und traut sich kaum auf die Straße. Auch eine legale Arbeit zu finden, fällt schwer und er meidet Ärzte und Krankenhäuser.
Finanzierung der Ausreise
Da die Situation für ihn in Georgien immer schwieriger wird, entschließt sich seine Frau Mari eine gut bezahlte Leihmutterschaft zu übernehmen. Die vermeintliche Lösung erweist sich als Problem, als sich Mari in das Ungeborene verliebt und Muttergefühle entwickelt. Doch letztlich trägt sie das Baby und mit dem Geld können sie sich ihre Ausreise nach Belgien sowie eine medizinische Behandlung finanzieren. Ob es mit der Anerkennung als Flüchtling klappt, bleibt in „Instructions for Survival“ leider offen.
Überlebenskampf
Der Stil des Dokumentarfilms ist nach dem aufwühlenden Beginn sehr sachlich. Alexander schildert seine Situation erstaunlich distanziert. Vieles muss man zwischen den Zeilen lesen, ohne dass es näher ausgeführt wird. Trotzdem ist „Instructions for Survival“ ein beeindruckendes Beispiel, wie Menschen in Krisensituationen versuchen, eine Lösung für ihr Leben zu finden und sich dabei auf die Solidarität der Partner und der Familie verlassen. Dies ermöglicht schlicht das Überleben.
Familiendrama: „When a Farm Goes Aflame“
Dass es auch anders gehen kann, zeigt „When a farm goes aflame“: Denn es geht um das Auseinanderbrechen einer Familie. Darin begibt sich der Regisseur Jide Tom Akinleminu auf schmerzliche Spurensuche seiner Familiengeschichte. Er entdeckt ein Geheimnis, über das niemand mit ihm sprechen will. In den 1960er Jahren kam ein junger Nigerianer zum Studium nach Dänemark. Dort trifft er seine zukünftige Frau, mit der er eine Familie gründet. Es sind die Eltern des Regisseurs.
Familienleben in Nigeria
Gemeinsam ziehen sie 1975 nach Nigeria. Doch 1991 wollen sie zusammen zurück nach Dänemark, wo sie sich bessere Perspektiven erhoffen, vor allem auch für ihre Kinder. Kurz vor der Abfahrt entschließt sich der Vater, doch in Nigeria zu bleiben. Er bleibt in Kontakt mit seiner dänischen Familie. Die Eltern führen eine Fernehe mit gelegentlichen Anrufen und Besuchen.
Ein Familiengeheimnis wird gelüftet
Erst bei den Recherchen zu dem Film entdeckt der Regisseur 2013, dass sein Vater in Nigeria eine zweite Familie gegründet und die er seiner Frau verheimlicht hat, um sie nicht zu verletzen. Die ist entsprechend schockiert und besteht auf der Scheidung, die sie sogar vor Gericht durchsetzen will. Die Familie bricht endgültig auseinander.
Keine Antworten auf falsche Fragen
Jide Tom Akinleminu hat das erklärte Ziel herausfinden zu wollen, warum sein Vater die zweite Familie verschwiegen hat und warum seine Mutter nicht nachgefragt hat. Doch darüber will keiner mit ihm sprechen. Seine Recherchen ziehen sich deshalb sehr in die Länge und bleiben trotz aller Bemühungen erfolglos. Selbst ein Orakel bei einem afrikanischen Weisen liefert keine Antworten. Es bleiben unterschiedliche Vorstellungen von Identität, Heimat, Liebe und Beziehungen, die die Familie nicht überwinden konnte. Dann wird bei seiner Mutter auch noch Krebs diagnostiziert. Man fragt sich als Zuschauer:in, ob es nicht besser gewesen wäre, wenn das Familiengeheimnis ein solches geblieben wäre.