Die 52. Ausgabe des Schweizer Dokumentarfilmfestivals Visions du Réel ging am 25. April 2021 erfolgreich zu Ende. Das hybride Festival mit Vorführungen in Kinos und online hatte 46.600 Zuschauerinnen und Zuschauer.
„Während die Online-Ausgabe des letzten Jahres es uns ermöglicht hat, neue Zielgruppen zu erreichen, können wir heute sehen, dass wir diese erfolgreich beibehalten und erweitert haben, insbesondere in der deutschsprachigen Schweiz“, sagte Raymond Loretan, Präsident des Festivals. Und er ergänzt: „Die Rückkehr in die Kinos ist auch ein wichtiges Signal für einen neuen kulturellen Frühling in unserem Land.“ Die Festival-Website visionsdureel.ch hatte in zehn Tagen mehr als 46.600 Besucher, von denen 45 Prozent aus dem Ausland kamen.
Publikumspreis: AnimaDoc „Flee“
Das Publikum vergab seinen von der Stadt Nyon mit 10.000 CHF dotierten Preis an die AnimaDoc-Produktion „Flee“ des Dänen Jonas Poher Rasmussen; er hatte schon beim Sundance gewonnen. Der Regisseur wählte die Animation, zum einen um die Anonymität seiner Charaktere zu wahren, zum anderen um die wahre Geschichte von Amin erzählen zu können. Er flüchtete aus Afghanistan und über Umwege landete er in Dänemark. Dort steht er vor der Heirat mit seinem Partner. Deshalb entschließt er sich, seine Geschichte zu erzählen.
Der Gewinner sagte: „Für mich hat ‚Visions du Réel‘ immer Qualität, Tapferkeit und guten Geschmack im Filmemachen signalisiert. Und obwohl ich natürlich gerne persönlich dort gewesen wäre, ist es etwas Besonderes zu wissen, dass ‚Flee‘ es ohne mich nach Nyon geschafft hat und das Publikum getroffen hat, das den Film so sehr schätzte, dass sie ihm diesen Preis verleihen wollten“.
Familiengeschichten: „Faya Dayi“ gewinnt den großen Preis
Den Großen Preis im Wettbewerb Langer Dokumentarfilm gewann mit „Faya Dayi“ von Jessica Beshir eine amerikanische, äthiopische und katarische Koproduktion. Mit starken Bildern in Schwarzweiß erzählt sie den Alltag einer Familie in Äthiopien. Sie hat früher Kaffee angebaut, doch der brauchte viel Regen. Deshalb sind sie auf den Kathstrauch umgestiegen. Dessen getrocknete Blätter sind ein Rauschmittel in Nordafrika. Am Rande erzählt der Film auch von Mythen, politischen Gefangenen im Land und den Überlegungen der Söhne, die teure und gefährliche Reise nach Europa zu unternehmen; der Film gewann auch den FIPRESCI-Filmkritikerpreis.
Spezialpreis ex aequo
Den Spezialpreis der Jury mussten sich „1970“ von Tomasz Wolski und „Les Enfants terribles“ von Ahmet Necdet Cupur teilen. In „1970“ geht um die Streikbewegung in Polen und die dadurch brisante politische Situation. Aufgezeichnete Telefongespräche von Regierungsmitgliedern werden sehr originell mit Puppentrick visualisiert und durch historisches Archivmaterial ergänzt. Ein wirklich starker Film!
„Les Enfants terribles“ ist eine persönliche Produktion. Der Regisseur ist in einer konservativen türkischen Familie aufgewachsen. Jetzt begehren seine 20 Jahre jüngeren Schwestern auf und wollen ausziehen. Doch die Eltern sehen dadurch die Familienehre gefährdet. Der Film liefert Einblicke in fremde Welten, die nicht mehr zeitgemäß erscheinen.
Außenseiter als Thema beliebt
Den Burning Lights-Wettbewerb gewann Stefan Pavlović für „Looking for Horses“, dem intensiven Porträt eines Außenseiters in Bosnien, der lange Zeit allein auf einer Insel gewohnt hat. Der Regisseur begleitet ihn bei seinen Angeltouren und versucht, ihn zum Sprechen zu bringen. Mit dem Spezialpreis in dieser Kategorie gewürdigt wurde der argentinische Beitrag „Splinters“ von Natalia Garayalde. Mit 12 Jahren wurde sie 1995 Zeugin der Explosion einer Munitionsfabrik in der Nachbarschaft. Zusammen mit ihrem Bruder nahm sie das Ereignis mit dem Camcorder des Vaters auf. Jetzt begibt sie sich auf Spurensuche nach den politischen Hintergründen dieser Explosion.
Verbindendes wird zu Trennendem
Im Nationalen Wettbewerb konnte sich Fisnik Maxville mit „Nostromo“ durchsetzen über die Begegnung eines Franzosen mit der indigenen Bevölkerung auf einer Insel im kanadischen Nordwesten. Mit dem Spezialpreis wurden hier Maria Iorio und Raphaël Cuomo ausgezeichnet für „Chronicles of that Time“ über die Veränderungen des Mittelmeers von einem verbindenden Gewässer zwischen Europa und Afrika zu einem trennenden.
Visions du Réel: Kino des Realen
Für Emilie Bujès, der künstlerischen Leiterin von Visions du Réel, zeigte die diesjährige Auswahl „einmal mehr die Unabhängigkeit und Freiheit eines zeitgenössischen Kinos des Realen, das sich von den mitunter entfremdenden Vorgaben der Fiktion und von den oft zu engen inhaltlichen und formalen Definitionen des ‚Dokumentarfilms‘ fernhält.“ Diese Programm-Qualität sei auch in der Presse gewürdigt worden.