Am 16. Mai 2021 wurden die Hauptpreise beim 36. DOK.fest München @ home verliehen. Das Festivalprogramm ist noch bis 23. Mai mit einem Late-Bird-Festivalpass (50.- €) zu sehen. Der kinokino-Publikumspreis (BR/3sat) wird erst am kommenden Freitag, 21. Mai, vergeben.
Familiengeschichten dominierten
Beim 36. DOK.fest München, das noch bis zum 23. Mai 2021 online zu erleben ist, laufen insgesamt 131 Filme aus 43 Ländern. Das Festival bietet so einen guten Überblick über das internationale Dokumentarfilmschaffen und die Vielfalt an Formen und Stilen. Als Thema sehr dominant sind eigene Familiengeschichte und die Auseinandersetzung mit Vätern und Müttern sowie die Suche nach Heimat und Identität. Bei den Preisträgern dominiert die filmische Auseinandersetzung mit der Sexualität.
Helena Třeštíková gewinnt VICTOR DOK.international
Die Hommage ist der tschechischen Filmemacherin Helena Třeštíková gewidmet. Sie hat mit ihrem jüngsten Dokumentarfilm „Anny“ den VICTOR DOK.international gewonnen, der vom BR und Story House mit 10.000 € dotiert ist. Es ist eine Langzeitbeobachtung zwischen 1996 und 2012.
Anny fühlt sich als typische Vertreterin der Arbeiterklasse, die jeden Job annimmt, um sich irgendwie durchs Leben schlagen zu können. Sie arbeitet als Toiletten- und Putzfrau und startet noch mit 46 Jahren als Prostituierte. Außerdem ist sie Teil einer Theatergruppe und als Sängerin aktiv. Mit 60 Jahren heiratet sie. Wird ihr dies das erhoffte Glück bringen?
Festivalleiterin Adele Kohout kommentiert: „Es kommt sicher nicht oft vor, dass ein Festival das Lebenswerk einer Filmemacherin würdigt und diese zugleich den Hauptpreis gewinnt. Aber Helena Třeštíkovás neuester, außergewöhnlich bewegender und einnehmender Film ‚Anny‘ zeigt einmal mehr, welch überragende Filmkünstlerin sie ist.“
Transgender-Geschichten siegreich
Mit dem VICTOR DOK.deutsch (5.000 €) wurden Laurentia Henske und Robin Humboldt für „Zuhurs Töchter“ ausgezeichnet. Die Familie ist aus Syrien geflohen, da die beiden ältesten Söhne transgender sind und sich eine Geschlechtsangleichung zur Frau wünschen. Das lässt sich mit der strengen Tradition des Familienclans nicht vereinbaren – in Syrien müsste sie der Vater sogar töten, um die Ehre der Familie zu retten.
Obwohl sich die religiösen Eltern für ihre beiden Kinder schämen, lassen sie ihnen doch die Freiheit. Diese genießen die beiden in Europa in vollen Zügen. Sie brechen auf, die Umwandlung zur Frau durchzuführen; die Regisseure unterstützten sie dabei. Der Film begleitet sie zwei Jahre mit allen Aufs und Abs. Denn auch in Stuttgart fallen sie auf und werden komisch angesehen. Doch dagegen hilft ihr Selbstbewusstsein und dass sie ihr Ziel vor Augen haben. Sie dürsten nach dem richtigen Leben im richtigen Körper – gegen alle Widerstände.
Wunsch, sie selbst zu sein
Dies gilt auch für Arturo/Ñoño, der als Transgender in einem kleinen mexikanischen Dorf lebt. Regisseur Bruno Santamaría konnte mit „Things we dare not do“ die Jury überzeugen und hat den VIKTOR DOK.horizonte gewonnen, der von der Petra-Kelly-Stiftung mit 5.000 € dotiert ist. Die Jury begründet ihre Entscheidung so: „Die Jury war fasziniert vom zarten und fürsorglichen Blick des Filmemachers auf seine Hauptfiguren. In täglichen Ritualen und ihrem tiefen existenziellen Erwachen begegnen die Jugendlichen den herzzerreißenden Realitäten des Lebens mit unglaublichem Mut und dem tiefen Wunsch, tatsächlich zu wagen, sie selbst zu sein.“
Reden über Väter
Als beste bayerische Nachwuchsregisseurin konnte Sophie Linnenbaum überzeugen und erhielt den mit 5.000 € dotierten Förderpreis des FilmFernsehFonds Bayern für „Väter unser“. Sechs Söhne und Töchter erzählen vor einem schwarzen Hintergrund über das Verhältnis zu ihrem Vater. Ein minimalistisches Konzept, das trotzdem Kraft entwickelt, weil man sich auf die Erzählungen konzentriert, die die Protagonisten zum Teil auch selbst zu Tränen rührt.
DOK.deutsch
Im deutschen Wettbewerb sind insgesamt dreizehn Filme zu sehen, die ebenfalls die Vielfalt der dokumentarischen Filmproduktion unter Beweis stellen. Von den Bildern sehr stark ist „Soldaten“ der Regisseure Christian von Brockhausen und Willem Konrad, Gewinner Deutscher Dokumentarfilm-Musikpreis 2021.
Die Filmemacher begleiten drei Rekruten durch die Grundausbildung. Geprägt von einer teilweise schwierigen Jugend suchen die Drei jetzt Anerkennung, Zugehörigkeit und eine Perspektive. Auch wenn sich die Aufgaben der Soldaten geändert haben mögen, der Drill und die geforderte Unterordnung sind bei der Bundeswehr über Jahrzehnte gleichgeblieben. Die Rekruten werden ebenfalls privat gezeigt. Dabei wird deutlich, dass eine Mutter Respekt vor einem möglichen Auslandseinsatz hat, der tödlich enden kann. Es überrascht, dass keine Rekrutin für den Film ausgewählt wurde.
Von Kriegern, Kriegerinnen und dem zerstörerischen Tod
Um drei starke Frauen geht es der Regisseurin Thaïs Odermatt in „Amazonen einer Großstadt“. Eine ist Mixed-Martial-Arts-Kämpferin, die andere war als Mädchen in der Fraueneinheit der kurdischen Guerilla im Nordirak und die dritte arbeitet als DJ. Alle drei schlagen sich in Berlin so durch und versuchen, kompromisslos ihren Weg zu gehen.
Angelina war auch eine starke, lebenslustige Frau. Für den Regisseur Erec Brehmer war sie sein Ein und Alles. Doch ein Autounfall zerstört ihre gemeinsamen Zukunftspläne. Angi stirbt dabei. Der Film „Wer wir gewesen sein werden“ ist die Trauerarbeit ihres Partners, der dabei mit seinen Privatfilmen den Kern ihrer Beziehung erkundet und dabei einen wahnsinnigen Sog entwickelt. Manche Szenen sind fast schon zu intim.
Reden über die Mutter und die Schule
Ebenfalls mit Privataufnahmen versucht Melanie Lischker in „Bilder (m)einer Mutter“ die Geschichte und das Leben ihrer Mutter zu rekonstruieren, die früh an Krebs gestorben ist. Es wird klar, dass sie nicht glücklich war mit ihrer Rolle in der Familie, aber auch nie einen Ausbruch wagte. Ein Stück weit eine Emanzipationsgeschichte, die sich durch die Zwänge der Familie nicht entfalten kann.
Um die Prägung der Jugendlichen zu einer sozialistischen Persönlichkeit ging es in den Schulen der DDR. In „Heimatkunde“ gräbt Christian Bäucker in den Erinnerungen des Schulalltags in Ostdeutschland am Beispiel einer Dorfschule. Eingeschult 1984, interviewt er seine Mitschülerinnen und Mitschüler und die Lehrerinnen, was sie erlebt haben und wie sie es heute einschätzen. Denn es ging nicht nur um Rechnen und Schreiben, sondern auch darum, die Kinder politisch zu prägen. Wer auffiel oder sich verweigerte, bekam Probleme in der Schule. Eine Mitschülerin sagt klipp und klar: „Es war meine Kindheit, nicht die DDR“.
Zwiespältiger Held
Vom System geprägt war auch Wilm Hosenfeld, der in Nordhessen als Schuldirektor einer Dorfschule ein begeisterter Anhänger Hitlers war und in ihm seine Zukunft sah. Er wurde Soldat und zog in den Krieg. Dort sah er die Grausamkeiten und Vernichtung von Juden und Polen. Dies ließ ihn zu einem Kritiker des NS-Systems werden, was er akribisch in seinen Tagebüchern festhielt. Doch er wurde auch aktiv. Er rettete mindestens 30 Polen und Juden – andere sprechen sogar von 60 Menschen – das Leben. Unter ihnen war Wladyslaw Szpilman, bekannt aus Polanskis Spielfilm „Der Pianist“. Der israelische Regisseur Chanoch Ze’evi zeigt in „Bad Nazi, good Nazi“ seine Wandlung. Und er zeigt die heftigen Diskussionen in Thalau, ob für man einen überzeugten Nationalsozialisten, der zum Helden wurde, eine Gedenktafel errichten will oder nicht. Ein differenzierter Film über das Gute und Böse.
Weitere Preisträger beim 36. DOK.fest München
Zwei weitere Preisträger haben wir bereits bei dokumentarfilm.info besprochen: „The Other Side Of The River“, ausgezeichnet mit dem VFF Dokumentarfilm-Produktionspreis, und Max Carlo Kohal („Der siebte Sohn“), ausgezeichnet mit dem Pitch Award für den besten studentischen Pitch. Letzterer Preis wird vom Haus des Dokumentarfilms gestiftet. Alle Preisträger:innen sind auf der Homepage von DOK.fest München abrufbar.
Festivalleiter Daniel Sponsel ist sehr zufrieden mit dem exzellenten Niveau des diesjährigen Festivals: „Ich freue mich, dass die Zuschauer*innen in München, Bayern und ganz Deutschland noch eine (knappe) weitere Woche Zeit haben, diese Werke und unser gesamtes Programm zu entdecken.“