HERstory: Interview mit Linn Sackarnd zu „Frauenwunder“
Rund die Hälfte der Weltbevölkerung ist weiblich. Trotzdem schrieben und schreiben vor allem Männer „HIStory“, indem sie Geschichten erzählten und Geschichte deuteten. Das sprichwörtliche Bild von einem Mann versieht die Doku-Reihe „HERstory“ mit einem Kontrapunkt.
Filmemacherin Linn Sackarnd hat mit Elisa Reznicek vom Haus des Dokumentarfilms über ihre Produktion „Frauenwunder – Frauen und das Wirtschaftswunder“ gesprochen. Als eine der vier Dokumentationen, die auf dem ARD-Sendeplatz „Geschichte im Ersten“ seit Mitte August dieses Jahres laufen, schildert die Produktion die 1950er und frühen 60er Jahre der Bundesrepublik aus weiblicher Sicht. Ausstrahlungstermin ist der 4. Oktober 2021 um 23:35 Uhr im Ersten.
Hoffnungen, Wünsche und die oftmals harte Lebensrealität
„Frauenwunder“ fragt: Wie ging es den Frauen mit der ihnen zugedachten Rolle als Hausfrau und Mutter? Welchen Anteil hatten sie am neuen Wohlstand – und konnten sie ihn überhaupt genießen? Und was haben die Stereotype von damals mit der heutigen Lebenswirklichkeit zu tun? Getragen wird der Stoff von einer Vielzahl bislang unveröffentlichter, hochwertig restaurierter Farbfilme der 1950er und frühen 1960er Jahre, die teils aus der Landesfilmsammlung Baden-Württemberg stammen. Sie ergeben ein vielschichtiges Bild, das das gängige Narrativ nicht selten als Klischee entlarvt.
Elisa Reznicek: Die Reihe „HERstory“ rückt konsequent Frauen in den Fokus. Warum ist dieser bewusste Blick auf das vermeintlich „schwache“ Geschlecht so wichtig und warum dennoch so selten?
Linn Sackarnd: Auch in der Geschichtsschreibung hat sich eine Art generisches Maskulinum eingebürgert: Geschichte von Männern steht für alle. Geschichte von Frauen ist jene von oder für Frauen – dabei ist das ja auch einfach „nur“ Geschichte. Es fängt schon damit an, dass aufgrund der Historie weibliche Stimmen und Bilder in den Archiven nicht so zahlreich vorhanden sind. Sobald man auf Quellen angewiesen ist, ist es rein statistisch also so, dass man mehr Männer hört und sieht. Auf einen Ausgleich muss man aktiv hinwirken.
Dabei ist das Themengebiet überaus spannend, wie auch Torsten Körners Kino-Dokumentarfilm „Die Unbeugsamen“ zeigt, der das Wirken von Politikerinnen in der Bonner Republik beleuchtet. Wie ist Ihr Gefühl: Verlangt das Publikum zusehends nach diesen Stoffen, wo doch die Auseinandersetzung mit „Genderfragen“ verstärkt ins öffentliche Bewusstsein rückt?
Es ist, wenn man so will, zeitgemäß, das zu machen – gerade, weil es bisher gefehlt hat. Man darf aber nicht vergessen: Wir erzählen nicht die Geschichte der Frauen – es ist auch eine Geschichte der Männer. Spannend wäre die Meinung der männlichen Zuschauer meines Films: Begreifen sie das als einen Teil ihrer Geschichte oder eher als eine rein weibliche Angelegenheit, die sich der „wirklichen“ Erzählung entgegenstellt? Wird es als Sonderthema wahrgenommen, das sie im Kern nicht betrifft, oder vielmehr als etwas, das in den Sichtweisen bisher nur noch nicht durchgedrungen ist, eben weil das generische Maskulinum nicht nur eine Sprachsache ist, sondern sehr viele Bereiche betrifft?
Frappierend fand ich, dass die in der Dokumentation „Frauenwunder“ angesprochenen Themen aus den 1950er Jahren – wie der Gender Pay Gap, die Doppelbelastung der Frau durch Familie und Arbeit oder generell die Auswirkungen einer patriarchalen Gesellschaft – auch viele Jahrzehnte später noch spürbar sind.
Ja, vieles wirkt bis heute nach. Das sagt im Film wörtlich Frau Wersig, die Präsidentin des Deutschen Juristinnenbundes, aber auch die anderen Interviewpartnerinnen weisen direkt oder indirekt darauf hin. Obwohl mein Film den Bezug zum Heute außer an zwei, drei kurzen Stellen gar nicht explizit herstellt, kam die Sprache bei all jenen, die ihn vorab schon sichten konnten, sofort darauf. Diese Reaktionen zeigen mir, dass es noch viel zu verhandeln gibt und das alte Rollenmodell weiter in vielen Köpfen steckt. Es führt zu Strukturproblemen und dazu, dass Frauen oft an eine gläserne Decke stoßen. Man hätte es nach 1945 in Asche und Schutt legen können, doch stattdessen wurde es im Wirtschaftswunder Westdeutschlands schön solide einbetoniert. Und seit der Wiedervereinigung müssen sich auch die ostdeutschen Frauen damit herumplagen.
n der Dokumentation kommen nur Expertinnen zu Wort, um die Geschehnisse einzuordnen oder zu kommentieren, aber keine Experten. War das eine bewusste Entscheidung?
Es lag auf der Hand und hat sich für mich richtig angefühlt. Ich habe nicht primär nach Zeitzeuginnen gesucht, sondern nach Frauen, die heute in verschiedenen Disziplinen in Führungspositionen sind, die ihnen in der Bundesrepublik der 50er Jahre nicht offen gestanden hätten. Sie sollten mit ihrem Fachwissen, aber auch vor dem Hintergrund persönlicher Erfahrungen die Lebenswelt von damals einordnen. Im Blick zurück werden nicht nur die Erfahrungen der eigenen Mütter und Großmütter reflektiert, er bringt gleichzeitig eine Hinterfragung der heutigen Situation mit sich.
Im Zusammenhang mit Ihrem Buch „Der Bruderkrieg“ und der begleitenden dreiteiligen Arte-Dokumentation, die mit Co-Autor Hermann Pölking entstanden sind, haben Sie betont, Ihr Ansatz sei „Geschichte nicht zu erklären, sondern aus der Erzählung verständlich zu machen.“ Was zeichnet dieses Grundprinzip aus?
Ich versuche aus der Zeit heraus zu erzählen und nicht rückblickend die heutige Deutung vorauszusetzen, denn Geschichte passiert in der jeweiligen Gegenwart. Beim „Bruderkrieg“ liegen beispielsweise zeitgenössische Tagebücher und Briefe zugrunde, bei „Frauenwunder“ die Archiv-Filme. Sie sind ein entscheidender Teil der Erzählung und somit weit mehr als Illustrationen.
Sie arbeiten viel mit Archiv-Material. Inwiefern hilft Ihnen Ihre berufliche Erfahrung dabei?
Ich arbeite nicht nur als Autorin und Filmemacherin, sondern seit langem auch als Archive Producerin für Projekte anderer Regisseurinnen und Regisseure. Das bringt eine umfangreiche Kenntnis der Archiv-Landschaft mit sich und das Wissen darum, welches Material es überhaupt geben könnte.
Dieser schöne Satz „Man sieht, was man weiß“ gilt ja auch beim Sichten und Auswählen. Wen oder was sehe ich? Wofür steht ein Bild oder könnte es stehen? Kann ich vielleicht noch etwas Konkretes für meinen Film herausfinden oder das Themengebiet weiter auffächern? Und kann ich das Material später in der Montage mit Text, Geräuschen, Musik so zum Leben erwecken, dass es mehr darstellt als nur allein sich selbst? Das ist anders als vorgefertigte Gedanken und Thesen zu transportieren, für die nur noch mit Text überfrachtete Illustrationsbilder gesucht werden. Mir geht es darum, den Blick auf die Bilder selbst zu lenken, das Archiv zu interpretieren und durch seinen Einsatz am Ende vielleicht sogar einen neuen Bedeutungszusammenhang zu generieren.
Bereits für die rbb-Doku „Geheimnisvolle Orte: Der Gendarmenmarkt“ haben Sie mit der Landesfilmsammlung Baden-Württemberg zusammengearbeitet. Auch in „Frauenwunder“ ist bisher unveröffentlichtes Material aus unserem Haus enthalten. Was zeichnet die Zusammenarbeit aus?
Man merkt bei der Landesfilmsammlung, dass es hier nicht nur ums Sammeln und Bewahren geht, sondern auch darum, Material zugänglich zu machen – das ist nicht selbstverständlich. Im Bestand finden sich Familienfilme, die sich über mehrere Jahre oder gar ein Jahrzehnt spannen und teilweise wirklich toll aufgenommen sind. In „Frauenwunder“ ist zum Beispiel die Familienweihnacht, das Tennisspiel und das Silvesterfest eines Ehepaares zu sehen, die ich eingesetzt habe, um die finanzielle Abhängigkeit der Frau zu zeigen.
Es gab zudem eine besondere Szene, die in der endgültigen Schnittfassung leider keinen Platz gefunden hat: Eine Dorfstraße in Süddeutschland 1953, auf der ein Mann an einem Bohrloch arbeitet. Um ihn herum stehen mehrere Jungen, etwas abseits zudem ein kleines Mädchen mit einem Kopftuch. Es schaut erst einmal zu, aber irgendwann geht es hin, drängelt sich sogar etwas vor und guckt neugierig in das Loch.
Ich habe das ungefähr zu jener Zeit gesichtet, als Kamala Harris als gewählte Vizepräsidentin der USA ihre erste Rede gehalten hat und sagte: „See yourselves in a way that others may not, simply because they’ve never seen it before.“ Also, dass man sich selbst definiert und eigene Ziele verfolgt, ohne Rücksicht auf mögliche genormte Vorstellungen anderer. Ich habe mich gefragt: „Wie war das für das kleine Mädchen in den 50er Jahren, als vom gesamten gesellschaftlichen Umfeld eine sehr stark genormte Rollenvorstellung auf sie projiziert wurde – und wie ist das heute?“ Szenen wie diese bekommen einen fast metaphorischen Charakter, wenn sie entsprechend in der Montage eingesetzt werden. Ich würde mich freuen, wenn ich diesen Schatz aus der Landesfilmsammlung in einem späteren Film verwenden könnte.
HERstory: Frauenwunder – Frauen und das Wirtschaftswunder“ wird am 4. Oktober 2021 um 23:35 Uhr im linearen Programm der ARD ausgestrahlt. Zuvor beschäftigt sich die Doku „HERstory: Wendeman(n)över – Frauen und die Wiedervereinigung“ am selben Abend mit den Jahren rund um den Mauerfall (ab 22:50 Uhr).
Die ersten beiden Folgen von „HERstory“ („Lebensgefahr – Frauen und Medizin“, „Angriffslust – Frauen und Krieg“) wurden von btf, Köln, produziert. Die dritte und vierte von Labo M, Berlin.
Für die Redaktion der Reihe zeichnet Mathias Werth vom WDR verantwortlich.
Alle Folgen sind in der ARD Mediathek verfügbar.