Schreien, nicht schweigen: Claude Lanzmann gestorben
Sich gegen alle Widerstände – speziell auch in Deutschland – hinweggesetzt zu haben und mit fast zehn Stunden Film unter dem Titel »Shoah« ein Meisterwerk der Dokumentarfilmgeschichte gemacht zu haben, das die Monstrosität des Mordens und die Brutalität des Nichtstuns wie kein zweites Werk thematisierte – das ist und bleibt das große Vermächtnis von Claude Lanzmann. Der französische Filmemacher ist am Donnerstag, 5. Juli 2018, im Alter von 92 Jahren gestorben. Die filmische Auseinandersetzung mit dem Genozid an den Juden im 20. Jahrhundert war das große Thema seiner Arbeit. Seine Filme bleiben, mit ihnen die Erinnerung – furchtbar, aber notwendig.
Wie das mit Meistern und ihren filmischen Meisterwerken oft der Fall ist, kann die Produktion eines solchen Juwels für alle, die daran beteiligt sind und speziell für jene, die das Werk finanzieren müssen/sollen/dürfen, zur ruinösen Erfahrung werden. So auch bei »Shoah«, diesem fast zehn Stunden langen Monolithen der Dokumentarfilmgeschichte. Claude Lanzmann, Schöpfer dieser einzigartigen filmischen Beschäftigung mit dem Nazi-Mord an Millionen Juden, hat oft erzählt, wie verworren die Wege waren. Zuletzt zum Beispiel dem jungen britischen Filmemacher und Journalisten Adam Benzine. Für dessen Dokumentarfilm »Claude Lanzmann – Stimme der Shoah« (nominiert u.a. 2016 für den Oscar) erinnerte sich Lanzmann noch einmal an den jahrelangen Produktionsprozess. Eine Geschichte voller menschlicher und auch künstlerischer Abgründe, auch 30 Jahren nach Vollendung von »Shoah«. Ein ums andere Mal hat sich Lanzmann durch die 12 Jahre dauernde Produktionshistorie gewunden; hat gelogen, um ja nicht abbrechen zu müssen; hat immer wieder Geld aufgetrieben, um bloß nicht aufhören zu müssen. Und dann, als der Film endlich fertig war, was dann? »Das ist kein Film, bei dem man sich freut, dass er fertig ist«, hat Lanzmann einmal gesagt. Wenn schon keine Freude, dann Erleichterung.
Lanzmann führte in seinen emotionalen Erinnerungen zurück in die 70er Jahre, als er fast 30 Jahre nach Kriegsende in Deutschland auf Täter traf, die wenig Reue zeigten, die sich in einer scheinbar wohlgeordneten Kleinbürgerlichkeit eingerichtet hatten und die nur mit Tricks und verdeckter Kamera zum Reden gebracht werden konnten. Und als die Überlebenden selbst möglichst nicht mehr mit dem Schmerz des Erlittenen konfrontiert sein wollten. Doch genau darum ging es Claude Lanzmann, er wollte, dass sie mit ihm, mit dem Film, mit den Zuschauern, das Grauen in der Erinnerung noch einmal erfuhren.
Das Hinhören-Können, das Zum-Reden-Bringen-Können, Schreien statt Schweigen, Weinen statt an Ungesagtem zu ersticken: Claude Lanzmanns Filme sind Qual und Befreiung zugleich. In »Vier Schwestern«, den Arte erst vor wenigen Monaten anlässlich des Jahrestages der Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz durch die Rote Armee ausstrahlte, kommen vier Frauen zu Wort: Ruth Elias, Ada Lichtman, Paula Biren und Hanna Marton. Lanzmann führte die Gespräche ursprünglich für »Shoah«. Aber auch ihr Gesagtes sollte nicht Verstummen. Lanzmann gelang es, auch aus diesen Interviews noch beeindruckende Filme zu machen. Im Zentrum der fest installierten Kamera stand immer nur die jeweilige Gesprächspartnerin. Aus dem Off hörte man gelegentliche Fragen von Lanzmann. In denen zeigte er stets, wie vertraut er mit der schrecklichen Geschichte ist. Er führte seine Gesprächspartnerinnen dabei ganz gezielt in ihre Erinnerungen.
Lanzmann auf »Shoah« zu reduzieren, wäre ungerecht und falsch. »Der letzte der Ungerechten« oder »Sobibor« und zuletzt auch »Napalm« über den Koreakrieg bleiben Meilensteine. Und wer sie über all das Grauen hinweg, das durch sie hindurch geschildert wird, auf einer emotionalen Ebene hinsieht, erkennt darin auch immer ihren Macher. So, wie sich Lanzmann in seinem letzten Film an eine Krankenschwester erinnert, in die er sich verliebt hatte.
Durfte man das Leben genießen als ein 1925 geborener Jude, den Nazis entkommen, in eine Welt geworfen, die nach dem Holocaust schnell vergessen wollte, was geschehen war? Lanzmann hat das Leben geliebt und er hatte den Mut, dies zu tun. Auch mit Simone de Beauvoir, mit seiner ersten Frau Judith Magre und mit seiner vor zwei Jahren gestorbenen zweiten Frau Angelika Schrobsdorff. Lanzmann hat uns mit Filmen und Büchern an seinem Leben teilnehmen lassen. Ein überreiches Vermächtnis. Nicht nur grauenvoll, sondern auch schön.