In seiner unkonventionellen Doku „Freistaat Mittelpunkt“ rekonstruiert Kai Ehlers das Schicksal von Ernst Otto Karl Grassmé, einem Opfer der nationalsozialistischen Rassenideologie. Am 3.11.21 wird der Film um 19 Uhr im Stuttgarter „Hotel Silber“ gezeigt.
Präsentiert wird die Doku „Freistaat Mittelpunkt“ von der Gedenkstätte Grafeneck in Kooperation mit dem Haus des Dokumentarfilms (HDF), der VHS Stuttgart und dem Haus der Geschichte Baden-Württemberg. Astrid Beyer (HDF) wird das Filmgespräch mit Regisseur Kai Ehlers und dem Leiter der Gedenkstätte Grafeneck, Thomas Stöckle, moderieren. Bei dem Gespräch wird auch das Online-Archiv vorgestellt. Es ergänzt die subjektive Perspektive von Ernst Otto Karl Grassmé um Stimmen von Zeitzeug:innen, die ihn ab den vierziger Jahren bis zu seinem Tod 1991 aus ihrem eigenen Erleben beschreiben. Kontextualisiert werden diese durch Dokumente wie Briefe, Akten und Fotografien in chronologisch-thematischen Kapiteln.
Der Eintritt zur Veranstaltung ist frei, eine Anmeldung unter [email protected] notwendig.
Erinnerungsort „Hotel Silber“ in Stuttgart
Ein halbes Jahrhundert stand das „Hotel Silber“ unter Nutzung der Polizei. 1919 als ehemaliges Gasthaus „Zum Bayrischen Hof“ von Heinrich Silber verkauft, wird das Gebäude zunächst Oberpostdirektion und ab 1928 zum Raum des Polizeipräsidium Stuttgart und der Politischen Polizei der Weimarer Republik. Mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten wandelte es sich zur Zentrale der Gestapo für Württemberg und Hohenzollern. Neben ihrer Funktion als Anlaufstelle für Anzeigen und Denunziationen, organisierte die Gestapo von dort Verhaftungen und Verschickung in Konzentrations- und spätere Vernichtungslager. Das „Hotel Silber“ wird damit zu einem vieler Handlungsorte des vergangenen NS-Terrors, der unzählige Opfer forderte. Von 1945 bis 1984 wird es von der Kriminalpolizei Stuttgart genutzt.
Grassmé als Opfer der NS-Rassenideologie
Auch Ernst Otto Karl Grassmé war ein Opfer der nationalsozialistischen Rassenideologie. Als schizophren diagnostiziert, wurde er als an einer Erbkrankheit leidend angesehen. Um diese an ihrer Ausbreitung zu hindern, wurde er von den Nationalsozialisten interniert und zwangssterilisiert. Nach seiner Entlassung im Jahr 1939, ein Jahr vor Beginn der Aktion T4 (dem Euthanasieprogramm der Nationalsozialisten), entschied er sich für ein Leben im Moor. Dort überlebte und lebte er. Eine Entschuldigung hat Grassmé nie und eine Entschädigung erst kurz vor seinem Tod erhalten, obwohl er schon früh die Auseinandersetzung mit den Behörden suchte. Durch Briefe hielt er Kontakt mit der Außenwelt, teilte so seine Gedanken und sein Innenleben mit Anderen.
„Freistaat Mittelpunkt“ – Interview mit Kai Ehlers
Kai Ehlers erzählt in seinem neuen Dokumentarfilm „Freistaat Mittelpunkt“ die Geschichte von Ernst Otto Karl Grassmé, gewährt dadurch eine subjektive Perspektive auf die grausame Praxis der Eugenik und ihre langanhaltende Wirkung. Gleichzeitig hinterfragt der Regisseur den Umgang von Gesellschaften mit ihren nicht konformen Mitgliedern.
Kay Hoffmann vom Haus des Dokumentarfilms hat mit Kai Ehlers über die Hintergründe seines Films „Freistaat Mittelpunkt“ gesprochen.
Kay Hoffmann: War es schwierig einen Film über eine Person zu machen, die bereits vor 30 Jahren gestorben ist?
Es gibt vor allem seine Briefe und persönlichen Äußerungen. Welche Herausforderung war es, dazu einen Film zu machen?
Zunächst war die Aufgabe nachzuvollziehen, was genau geschehen war. Nur durch das Zusammensetzen der Fragmente, in denen er in den Briefen auf seine Geschichte eingeht, und einer anschließenden umfangreichen Archivrecherche konnte ich rekonstruieren, was ihm widerfahren ist. Daraus dann eine Erzählung zu formen, die sich auf seine Perspektive konzentriert, stellte mich vor die Herausforderung, eine dazu passende filmische Form zu entwickeln.
Wie haben Sie die Locations gesucht und gefunden, an denen Sie die aktuellen Bilder gedreht haben?
Ich habe mich an den Ort begeben, an dem er gelebt hat. Ausgehend von diesem ehemaligen Moor, einem immer noch morastigen Waldstück umgeben von Kuhweiden, habe ich mich dann in einem kleinen Radius auf die Suche nach passenden Bildern begeben, die einerseits die Isolation und Beschränkung auf dieses Exil und andererseits Elemente des ländlichen Lebens, das ihn umgab, zeigen sollten. So wollte ich seiner inneren Verfassung eine Entsprechung geben, assoziative Bezugspunkte zur Erzählung schaffen und nicht zuletzt auch den realen Ort aus heutiger Sicht zeigen, um die Gegenwart der Vergangenheit zu betonen, die trotz geringer verbliebener physischer Spuren doch als Geschichte weiter existiert.
Wie gestaltete sich die Montage dieses Materials?
Am Anfang der Montage stand die Entscheidung, die Erzählung des Films komplett in den Ton zu verlagern. Dafür habe ich zunächst begonnen, diese Erzählung aus den vorhandenen Texten, Briefen und den Akten zu konstruieren. Das hat fast ein ganzes Jahr in Anspruch genommen. In diese Arbeit flossen aber bereits Gedanken zu möglichen Bildern ein und der erste Dreh erfolgte noch bevor die Textarbeit abgeschlossen war. In einem zweiten Drehblock folgten dann Bilder, die noch fehlten, um die visuelle Erzählung zu komplettieren. Ein wichtiger Bestandteil während der Montage war die Bearbeitung und vor allem immer wieder die Kürzung der Texte, was nur durch das Einsprechen zu beurteilen war. Insofern war es dann eine Art Herantasten an den Rhythmus und die Geschwindigkeit der Erzählung.
Wie wichtig war dabei die Stimme, die die Texte spricht?
Die Stimme war sehr wichtig. Ich habe mich intuitiv dafür entschieden, die Briefe entgegen dem aktuellen Trend in vergleichbar konstruierten Filmen nicht neutral und sachlich sprechen zu lassen. Ich wollte, vielleicht als Ergebnis der erwähnten Anverwandlung, dass die Person sozusagen zum Leben erweckt wird. In dem Moment hat der Film vielleicht die Grenze zum Essayfilm überschritten. Nach ersten Versuchen mit professionellen Sprechern habe ich mich für die Arbeit mit Laien entschieden, weil ich das Unperfekte, eine Art Anti-Routine gesucht habe, die der Vorstellung, es könnte sich wirklich um Ernst Otto Karl Grassmé und seine Frau Berta handeln, unterstützen sollte. Dass am Ende mein Vater Ernst Otto Karl Grassmé seine Stimme leiht, ist die konsequente Fortführung dieser Überlegung. Er war im selben Alter wie dieser, als der die Briefe geschrieben hat, und ist nur circa drei Kilometer entfernt von diesem geboren, weswegen er denselben Dialekt spricht. Aber natürlich hat er auch ein Talent, von dem ich wusste. Die anderen Stimmen haben andere Geschichten.
War von Anfang an Musik geplant für Ihren Film?
Einem Einsatz von Musik stand ich zunächst skeptisch gegenüber. Aber die Dichte der Erzählung bei der gleichzeitigen Konzentriertheit der Bilder ließ es mir dann doch richtig erscheinen, mit Musik ein weniger enges Element hinzuzufügen, das eine Art emotionalen Freiraum jenseits der inhaltlichen Erzählung öffnet. Die Musik ist von Chris Hirson, einem befreundeten Jazzmusiker. Auf meine Bitte hin hat er den Film angeschaut und mit wenigen Vorgaben mittels Improvisation die Musik dazu entwickelt. Wir haben dann zusammen noch editiert, was hieß von der wunderbaren Musik erhebliche Teile wieder rauszunehmen, weil sie sonst zu viel Aufmerksamkeit beansprucht hätte. Aus meiner Sicht hat Chris eine geniale musikalische Interpretation gefunden, die es schafft, der Figur von Ernst Otto Karl Grassmé eine weitere Dimension zu verleihen.
Sie haben neben dem Film ein Online-Archiv mit dem Nachlass von Ernst Otto Karl Grassmé und Zeitzeug:innen aufgebaut. War dies von Anfang an geplant?
Nein. Erst nachdem bei der Konzeption klar wurde, dass ich mich auf die Rekonstruktion der Subjektive von Ernst Otto Karl Grassmé konzentrieren würde, kam der Gedanke, die damit vom Film ausgeschlossenen Materialien – zahlreiche Gespräche mit Zeitzeug:innen, Briefe, Dokumente und Stempel – in einem anderen Kontext zu zeigen.
Zunächst war dafür eine Ausstellung geplant, da der Film seinen Ursprung im Kunsthaus M.1 der Arthur Boskamp-Stiftung hatte, lag das nahe. Als dann die Einschränkungen durch die Pandemie kamen, habe ich das Konzept in Zusammenarbeit mit Michael Ebert-Hanke in Richtung eines Online-Archivs verändert. Heute erscheint mir das als die deutlich bessere Form, unter anderem, weil ich es auf der Kinotour des Films den Zuschauenden nach dem Film auf der Leinwand direkt vorstellen kann und es dauerhaft öffentlich zugänglich ist.
Sie haben den Film auf verschiedenen Festivals und mittlerweile bundesweit in vielen Kinos gezeigt. Wie waren die Reaktionen des Publikums?
Den Film haben Sie weitgehend unabhängig finanziert über Crowdfunding, Stiftungen, die Filmwerkstatt Kiel der Filmförderung Hamburg Schleswig-Holstein. Wie herausfordernd war dieser Weg?
“Freistaat Mittelpunkt” im “Hotel Silber” Stuttgart
03.11.2021, um 19:00 Uhr | Adresse: Dorotheenstraße 10, 70173 Stuttgart
Der Eintritt zur Veranstaltung ist frei, eine Anmeldung unter [email protected] notwendig.
Veranstalter: Gedenkstätte Grafeneck in Kooperation mit dem Haus des Dokumentarfilms (HDF), der VHS Stuttgart und dem Haus der Geschichte Baden-Württemberg.