Das bewegte und bewegende Leben von Marthe Hoffnung Cohn erzählt „Chichinette – Wie ich zufällig Spionin wurde“. Das Haus des Dokumentarfilms zeigte den Film am 10.11.21 bei den Jüdischen Kulturwochen Stuttgart in Anwesenheit der Regisseurin Nicole Alice Hens.
Seit zahlreichen Jahren präsentiert das Haus des Dokumentarfilms (HDF) im Rahmen der Jüdischen Kulturwochen in Stuttgart eine Filmvorführung mit anschließendem Filmgespräch. 2021 war die Regisseurin Nicola Alice Hens mit ihrem Dokumentarfilm „Chichinette – Wie ich zufällig Spionin wurde“ im Stuttgarter Innenstadtkino Cinema zu Gast. Im Filmgespräch mit Astrid Beyer vom Haus des Dokumentarfilms stand sie den Zuschauer:innen Rede und Antwort. Auch die inzwischen 101 -jährige Marthe Hoffnung Cohn und ihr Mann Major waren in einem Videointerview mit Astrid Beyer zu sehen. Dieses wurde aufgrund der großen Entfernung (Hoffnung lebt in den USA) im Voraus aufgezeichnet.
Doku über Erlebnisse im Zweiten Weltkrieg
Marthe Hoffnung Cohn war während des Zweiten Weltkriegs als Spionin im damaligen Deutschen Reich tätig. Über ihre Erlebnisse sprach sie allerdings jahrzehntelang nicht – auch nicht mit ihrem Mann. Erst durch einen Aufruf von Steven Spielbergs Shoah Foundation fand ein Umdenken statt. Mittlerweile teilt sie ihre Erfahrungen in Vorträgen der ganzen Welt. Der Dokumentarfilm „Chichinette – Wie ich zufällig Spionin wurde“ erzählt ihre bewegende Geschichte.
Familie floh vor den Nazis
Als Jugendliche floh Marthe mit ihrer Familie, die im französischen Metz lebten, mehrfach vor den Nationalsozialisten. Als die Grenzgebiete von deutschen Soldaten eingenommen wurden, stand das Leben der jüdischen Familie auf dem Spiel. Marthes Verlobter Jacques schloss sich einer Widerstandsgruppe an und auch sie und ihre Schwester Stéphanie halfen jüdischen Menschen in der Stadt, in die freie Zone zu gelangen. „Wir retteten das Leben von hunderten Menschen, in dem wir sie zu einem Bauern schickten, der sie über die Grenze in das nicht besetzte Gebiet brachte“, erzählt Marthe Hoffnung Cohn im Video-Interview mit Astrid Beyer vom HDF.
Jacques und Stéphanie wurden schließlich festgenommen und ermordet. Marthe half ihrer Familie bei der Flucht nach Poitiers und wollte sich ebenfalls Widerstandsgruppen anschließen, wurde jedoch nie aufgenommen. „Sie sagten mir, ich sei dazu nicht fähig.“
Viele Jahre lang sprach sie nicht über das Geschehene
Ihre Erlebnisse schildert Marthe Hoffnung Cohn im Dokumentarfilm mit viel Humor, aber dennoch sachlich. Deutlich wird aber auch, welch große Angst sie hatte, entdeckt zu werden. „Chichinette“ stellt dar, wie bedeutsam ihre Taten sind und wie wichtig ihre Geschichte ist.
Erst in den 1990er Jahren, als die von Steven Spielberg gegründete Shoah Foundation einen Zeitzeugenaufruf startete, erzählte sie ihre Geschichte. „Niemand hat mich je gefragt, wie ich während des Krieges überlebt habe“, berichtet sie im Video-Interview mit Astrid Beyer. Auch ihr Mann Major Cohn, mit dem sie in den USA lebt, wusste bis 1999 nichts von der Vergangenheit seiner Frau. „Als unsere Kinder im Bett waren, hat sie mir nach und nach einzelne Erlebnisse erzählt. Ich habe aber nie nachgefragt, wie sie überhaupt dorthin gekommen ist und wie sie das alles überlebt hat“, schildert Major Cohn.
Ihre Vorträge sind sehr immer sehr gut besucht und das Publikum ist beeindruckt von ihrer Lebensgeschichte. Besonders wichtig sind ihr die jüngeren Zuhörer:innen. „Sie sind die Zukunft. Sie sollen sich engagieren“, so Cohn. Marthe Hoffnung Cohn erhielt zahlreiche Auszeichnungen, darunter das Bundesverdienstkreuz und die französische Militärmedaille.
Nicola Alice Hens über „Chichinette – Wie ich zufällig Spionin wurde“
„Den spannendsten Aspekt an ihrer Geschichte fand ich, wie sie heute ihre Geschichte erzählt und wie sie aus den Erlebnissen ihre Mission zieht“, berichtet Regisseurin Nicola Alice Hens im Gespräch im Innenstadtkino. Auf Marthe Hoffnung Cohn traf Nicola Alice Hens, als sie als Kamerafrau für eine israelische Regisseurin einen Film über Charlotte Salomon drehte. Marthe kam zu einer Vorführung des Films im Goethe-Institut in Los Angeles. „Nach dem Film kam diese kleine Dame und wir hatten ein interessantes Gespräch. Sie hat mich sehr mit ihrer Energie fasziniert. Nach der Begegnung habe ich über sie recherchiert und bin auf ihre Geschichte gestoßen.“
Als sie bei einem Vortrag in Berlin war, begleitete sie die Regisseurin und nahm sie das erste Mal mit der Kamera auf. „Da habe ich gemerkt, dass sie eine sehr interessante Protagonistin ist“, so Hens. Im Film wollte sie vor allem auch das darstellen, was Marthe Hoffnung Cohn in ihren Vorträgen nicht erzählt. „Sie hat diese Art Bausteine, die sie in ihren Vorträgen einsetzt, je nachdem, wer das Publikum ist. Ich wollte darüber hinaus gehen“, erklärt Nicola Alice Hens.
Animationen verstärken die Erzählungen
Die Erinnerungen von Marthe werden im Film oft durch Animationen dargestellt. „Ich wollte das Archivmaterial bewusst mit Animationen mischen, um das zu brechen, was man sonst kennt aus dem Zweiten Weltkrieg. Die Animationen setzen die Erinnerungen in Bilder um”, erklärt die Regisseurin. Doch den Erzählungen wird dabei genauso Raum gegeben. Dramaturgisch beraten wurde Nicola Alice Hens durch den bekannten Filmemacher Andres Veiel.
Sendehinweis:
„Chichinette – Wie ich zufällig Spionin wurde“ (MISSINGfilms) ist in der synchronisierten Fassung am 1. Dezember 2021 um 23:45 Uhr im rbb zu sehen. Parallel zum Release des Dokumentarfilms von Nicola Alice Hens erschien zudem die Biografie „Behind Enemy Lines“ auf Deutsch. „Im Land des Feindes“ ist bei Schöffling & Co. im Verlagsprogramm.