„Mein fremdes Land“ bei der Filmschau Baden-Württemberg
Neben erfolgreichen Kino-Produktionen wie „Roamers“ und „Dear Future Children“ präsentiert die Filmschau 2021 im Doku-Wettbewerb auch die Baden-Württemberg-Premiere „Mein fremdes Land“ über einen jungen Mann auf der Suche nach seiner leiblichen Mutter.
Manuel wurde als Kind in Bolivien adoptiert; von seiner Mutter weiß er nur, dass sie eine Ziegenhirtin war. 30 Jahre später reist das Filmteam auf der Suche nach ihr in das Andenland.
Bemerkenswert ist, dass es sich hier um eine komplette Alumni-Produktion der Filmakademie Baden-Württemberg handelt. Nicht nur die beiden Regisseure Johannes Preuss und Marius Brüning sowie der Produzent Malte Schumacher sind Absolventen der Ludwigsburger Talentschmiede, sondern auch der Protagonist Manuel. Stefanie Roloff vom HDF sprach mit den beiden Regisseuren.
Wie kam es zu diesem Filmprojekt?
Johannes Preuss: Alles fing damit an, dass ich während meines Studiums an der Filmakademie Baden-Württemberg einen Editor gesucht habe für meinen Kurz-Dokumentarfilm „Galamsey – für eine Handvoll Gold“. Manuel war bereit, mich zu unterstützen und fragte, ob ich im Gegenzug mit ihm einen Film über die Silberminen im bolivianischen Potosí machen würde, seinem Geburtsort. Die Herkunftsgeschichte stand dabei noch gar nicht im Vordergrund. Als wir 2017 im Rahmen der Student Academy Awards den „Studenten-Oscar“ für „Galamsey“ erhielten, hatte Manuel die Idee, den Fokus auf die Suche nach seinen Wurzeln zu setzen.
Ein aufwändiges Projekt. Welche Risiken gab es abzuwägen?
Marius Brüning: Für uns war es total neu, einen Dokumentarfilm über eine persönliche Geschichte zu drehen. Wir haben beide Fernsehjournalismus studiert und hatten bisher eher themengetriebene Filme gemacht, hinter denen eine konkrete Recherche stand. Bei den Arbeiten zu „Mein fremdes Land“ ergab sich vieles erst beim Dreh. Zusammen mit Malte Schumacher, der gemeinsam mit uns Fernsehjournalismus studiert hat und bei diesem Film die Rolle des Produzenten übernommen hat, haben wir beschlossen, dieses Wagnis einzugehen.
Johannes Preuss: Uns war bewusst, dass die Suche scheitern könnte. Aber anhand eines Aktenordners mit Unterlagen zu Manuels Adoption haben wir schnell reale Anknüpfungspunkte gefunden, zum Beispiel einen Ableger des Kinderheims, in dem er als Baby abgegeben wurde.
War es schwer, nach 30 Jahren noch Spuren zu finden?
Marius Brüning: Im Gegenteil! Unsere Sorge hat sich schließlich sogar komplett umgedreht, denn nach 10 Drehtagen in Deutschland hatten wir die Mutter in Bolivien über Lourdes, unsere Helferin vor Ort, ausfindig gemacht – und waren selbst noch nicht einmal da! Nun hatten wir die dramaturgische Herausforderung, trotzdem die Spannung zu halten.
Johannes Preuss: Gleichzeitig ging es aber auch um die Frage, was ein solches Wiedersehen mit Mutter und Sohn macht. Im Grunde ist es die alte biblische Geschichte des verlorenen Sohnes.
Die Helferin Lourdes und ein weiterer Helfer Diego sind vor der Kamera als Teil des Suchteams immer mit dabei. Warum erfährt man so wenig über sie?
Johannes Preuss: Diego ist ein alter Freund von mir, der lange Zeit als Journalist in Bolivien gelebt hat. Manuel selbst sprach kein Spanisch und brauchte Unterstützung. Weitere Hintergründe zu Diego haben wir bewusst weggelassen, um uns auf Manuels Geschichte zu konzentrieren.
Marius Brüning: Auch der Kontakt zu Lourdes entstand privat, über Diego. Sie hatte schon einmal einer Familie geholfen, zueinander zu finden. Das war pures Filmemacherglück! Diego war also nicht nur ein Protagonist, sondern hatte auch Anteil an der Entwicklung der Geschichte. Ohne ihn und seine Sprachkenntnisse hätten wir zum Beispiel bestimmt nicht in der Mine drehen können.
Manuels Mutter Balbina kommt aus sehr armen Verhältnissen. Wie ist sie mit der Situation umgegangen, in der sie nicht nur auf ihren leiblichen Sohn, sondern auch auf ein Filmteam trifft?
Johannes Preuss: Lourdes hat Balbina im Vorfeld besucht und der Sohn von Lourdes hat ein kurzes Video gemacht. Bei diesem Treffen hat sie dem bevorstehenden Dreh zugestimmt. Trotzdem gab es Unwägbarkeiten, weil sie schwer erreichbar war.
Wie gelingt es, als Dokumentarfilmer so tief in private Schicksale einzutauchen?
Marius Brüning: Manuel hat sich in die Suche gestürzt – und dabei die Kamera fast vergessen. Bei einem solchen Porträt ist es trotzdem immer die Frage, wie nah man dran sein darf.
Johannes Preuss: Für mich hinter der Kamera war es wichtig, niemandem zu nahe zu treten. Wir wollten keinen sensationalistischen Film machen, aber trotzdem essenzielle Momente wie die Wiederbegegnung zeigen. Dabei war die vorhandene Vertrauensbasis eine einmalige Chance. Und wir hatten in Bolivien einen ganzen Monat Zeit.
Wie geht es Manuel heute? Wurde er durch den Film „kompletter“, wie er es sich gewünscht hat?
Johannes Preuss: Manuel hat einen wichtigen Punkt erreicht, weil er seine Mutter und den Ort, an dem er geboren wurde, endlich gesehen hat. Aber ich denke, der ganze Prozess ist noch nicht abgeschlossen.
Marius Brüning: Für ihn war es ganz wichtig, seine Mutter wissen zu lassen, dass es ihm gut geht und sie kein schlechtes Gewissen zu haben braucht, weil er dankbar ist für das Leben, das er heute in Deutschland hat.
Inwiefern hat der Film das Leben der Protagonisten insgesamt verändert?
Johannes Preuss: Der Film ist Teil ihrer Geschichte. Manuel sagte, dass er nicht weiß, ob er ohne ihn die Kraft gefunden hätte, diesen Schritt zu gehen. Der Film hat viel in Gang gesetzt. Heute sind alle miteinander in Kontakt, auch Manuels Brüder und seine Schwester. Die Mutter wohnt mittlerweile bei ihr. Ob das ohne den Film passiert wäre, weiß ich nicht. Wie es weitergeht, liegt außerhalb des Films.
Kommen wir zur Ästhetik. Sie setzen in Bolivien oft Drohnenflüge ein, mit denen Sie plötzlich eine ganz andere Perspektive einnehmen. Warum?
Johannes Preuss: Wir hatten von vornherein das Ziel, eine Kinodokumentation zu machen. Wir wollten das Schicksal eines einzelnen Menschen groß erzählen, weil dahinter eine universelle Geschichte steht.
Marius Brüning: Die ländliche Gegend, in der Manuels Mutter nur zusammen mit ihrem Enkelkind lebt, ist extrem karg. Mit den Drohnenbildern der schroffen Landschaft zeigen wir auch die Härte ihrer Lebenswirklichkeit sowie den Gegensatz zum reichen Deutschland.
Aber ist das nicht ein wenig wie eine Reise-Doku?
Marius Brüning: Für Manuel war es sehr wichtig, nicht direkt zu seiner Mutter zu fahren, sondern das Land kennenzulernen, La Paz, Sucre, das Essen, die Landsleute – diese Reise wollten wir einfangen.
Welche Rolle spielt für Sie die Musik im Film?
Johannes Preuss: Wir wollten uns auch bei der Auswahl der Musik nicht in unseren Gestaltungsmethoden limitieren, keinen allzu puristischen Film machen. „Mein fremdes Land“ sollte sich nicht nur an ein Fachpublikum richten. Dazu gab es einen engen Austausch mit unserer Musikerin Chiara Strickland.
Marius Brüning: Das Ziel war, die Geschichte ein bisschen populärer zu erzählen. Trotzdem sind für mich nicht alle emotionalen Momente im Film mit der Musik verbunden, sondern es gibt auch Stellen, die ganz unabhängig von ihr wirken.
Hat die Corona-Pandemie den Dreh oder die Veröffentlichung behindert?
Johannes Preuss: Die Dreharbeiten fanden komplett vor Beginn von Corona statt. Beim Schnitt haben wir während des Lockdowns sehr zurückgezogen gearbeitet. Von großem Einfluss war natürlich, dass viele Festivals nur in reduzierter Form stattfinden konnten. Da waren wir froh, dass die Premiere schließlich bei den Internationalen Hofer Filmtagen realisiert werden konnte – wenn auch mit strengen Hygieneregeln. Und auch die Filmschau hat jetzt kurzfristig auf ein Online-Festival umgestellt. Das ist natürlich etwas ganz anderes als die Reaktionen der Zuschauerinnen und Zuschauer im Kino zu erleben.
Was nehmen Sie als Filmemacher aus dem Projekt mit?
Johannes Preuss: Ich nehme das Selbstbewusstsein mit, auch auf Geschichten zu vertrauen, die am Anfang eher auf wackeligem Boden stehen. Das war unser erster 90-Minüter und wir haben gelernt, dass es sich lohnt, beharrlich dranzubleiben. Dafür haben wir mit DOKblick sogar eine eigene Firma aufgebaut.
Marius Brüning: Unser Produzent Malte Schumacher hat gesagt, dass dieser Film etwas war, das man wohl nur einmal erlebt. Für mich war er eine große Horizonterweiterung. Man weiß natürlich, dass Menschen so leben wie Balbina. Aber es zu sehen, ist etwas anderes: wie sie über offenem Feuer kocht oder jeden Morgen Holz holt, um Tee zu kochen.
Sie sind in einem hochkarätigen Wettbewerb mit starker Konkurrenz. Machen Sie sich Hoffnung auf einen Preis?
Marius Brüning: Der Film war immer auch ein Baden-Württemberg-Projekt. Manuel ist dort aufgewachsen, lebt immer noch dort, genau wie seine Adoptiveltern. Insofern passt der Film meiner Meinung nach gut in die Auswahl.
Johannes Preuss: Auch wenn wir schon eine Premiere in Hof hatten, wo wir sehr gerne waren, ist es jetzt etwas anderes. Unsere Kommilitonen von der Filmakademie wollten kommen, Professoren, die Manuel kennen, seine ganze Familie. Umso trauriger ist es, dass die Kinovorstellungen jetzt wegen der aktuellen Corona-Situation abgesagt wurden.
„Mein fremdes Land“ bei der Filmschau Baden-Württemberg
Aufgrund der aktuellen Corona-Situation läuft die Baden-Württemberg-Premiere von „Mein fremdes Land“ online am 4.12.2021 ab 18 Uhr und ist bis 22 Uhr verfügbar. Hier geht es zu weiteren Informationen rund um die Filmschau Baden-Württemberg und das ins Digitale verschobene Festival.
Mein fremdes Land, Dokumentarfilm, 94 min, Bolivien und Deutschland 2021
Regie: Johannes Preuss, Marius Brüning, Produzent: Malte Schumacher, Kamera: Johannes Preuss, Schnitt: Tobias Wilhelmer, Musik: Chiara Strickland, Musikmischung: Marc Fragstein, Ton: Malte Schumacher, Marius Brüning, Valentin Burkhardt, Drehbuch: Johannes Preuss, Marius Brüning, Ton-Postproduktion: Marco Schnebel, Claudio Demel, Mischung: Marvin H. Keil, Motion- & Titeldesign: Beppo & Robin Albrecht, Farbkorrektur: Robin Jünkersfeld, Redaktion: Joachim A. Lang, Katharina Maria Kontny.
Mit: Manuel Sosnowski, Diego Gonzalez.
Produziert von DOKblick Filmproduktion, in Co-Produktion mit dem Südwestrundfunk (SWR), co-finanziert von der Medien- und Filmgesellschaft Baden-Württemberg (MFG)