Die tragischen Geschichten von der Flucht nach Europa sind aus den Schlagzeilen nahezu verschwunden. Der vielfach ausgezeichnete Kurzfilm „Seepferdchen“ von Nele Dehnenkamp widmet sich einem solchen Schicksal. Er wird am 20.12.21 in der MDR-Kurzfilmnacht gezeigt.
Rettung in letzter Not
Im Mittelpunkt steht die Jesedin Hanan. Sie ist mit ihren Eltern und Geschwistern 2015 aus dem Nordirak geflohen. 451 Tage waren sie unterwegs für die knapp 6.000 Kilometer lange Flucht. Die Überfahrt über das Mittelmeer nach Griechenland war der dramatischste Moment. Hanan konnte nicht schwimmen. Das überfüllte Schlauchboot lief voll. Mit Müh und Not erreichten sie das rettende Ufer.
Seepferdchen als Symbol
Das Trauma und die Erinnerung sitzen tief. In Deutschland hat sie dann schwimmen gelernt. Jetzt bringt sie es ihrem kleinen Bruder bei. Sehr sachlich erzählt sie ihre Geschichte, den Blick oft gesenkt. Dazu passen unspektakuläre Bilder aus der Schwimmhalle. Der Schwimmlehrer erklärt, dass das erste Abzeichen „Seepferdchen“ heißt, weil es aufrecht im Wasser stehen kann. Diese Eigenschaft hat Hanan damals das Leben gerettet. Ihr ist es gelungen, nicht unterzugehen. Aber die Bilder vom Blau des Wassers, die Bedrohlichkeit der Situation und die Furcht vor dem Ertrinken hat sich in ihr Gedächtnis eingebrannt. Der Kurzfilm „Seepferdchen“ erforscht diese Widersprüchlichkeit und Unberechenbarkeit des Gedächtnisses.
Politische Zeichen setzen
Regisseurin Nele Dehnenkamp sieht ihren Kurzfilm, der im Rahmen ihres Studiums an der Filmakademie Baden-Württemberg entstanden ist, als politische Stellungnahme: „Die Bilder von ertrinkenden Kindern im Mittelmeer haben ihre Schlagkraft verloren, weil wir ihnen – nachdem sie über Monate hinweg die mediale Diskussion bestimmten – überdrüssig wurden. Während sich das Mittelmeer als Massengrabstätte Schutzsuchender leise aus dem kollektiven Gedächtnis der europäischen Gesellschaften verabschiedet, ist die Erinnerung für all jene, die in einer lebensgefährlichen Überfahrt nach Europa gekommen sind, weniger einfach zu vergessen. So bleibt das Trauma, aber auch die Freude über das Überleben.“
Qualifiziert fürs Oscar-Rennen
Die Regisseurin studierte Sozialwissenschaften in Berlin und New York sowie Dokumentarfilmregie an der Filmakademie Baden-Württemberg in Ludwigsburg. Ihre beiden Kurzfilme „We will Survive“ (2018) und „Seepferdchen“ (2020) wurden auf zahlreichen Festivals gezeigt, darunter IDFA, DOK Leipzig und dem Internationale Kurzfilmfestival in Palm Springs. „Seepferdchen“ lief weltweit auf über 50 Festivals und wurde mehrfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Goldenen Spatz in Erfurt und dem CIVIS Young C. Medienpreis 2021. Mit einem Preis beim Atlanta Filmfestival qualifizierte er sich für die Academy Awards.
Arbeit an langem Dokfilm
Zurzeit arbeitet Nele Dehnenkamp an ihrem ersten abendfüllenden Dokumentarfilm, der über einen Zeitraum von sechs Jahren gedreht wurde. Der Film erzählt die Geschichte einer afroamerikanischen Mutter, die unermüdlich für ihre Familie kämpft, während ihr Ehemann eine lebenslange Haftstrafe in einem Hochsicherheitsgefängnis verbüßt. Sie bleibt den politischen Themen treu.
Ausstrahlung:
In der Nacht vom 20. auf den 21.12.2021 um 0.15 Uhr im MDR Fernsehen. Außerdem ist „Seepferdchen“ bis zum 21.03.2022 in der ARD-Mediathek verfügbar.