Der „Radikalenerlass“ führte vor 50 Jahren zur Überprüfung Tausender Personen im öffentlichen Dienst. Anlässlich des Jahrestags zeigt Das Erste „Jagd auf Verfassungsfeinde“ von Hermann G. Abmayr als TV-Erstausstrahlung. Eine exklusive Preview gibt es in Stuttgart.
Durch den Beschluss des Bundes und der Länder vom 28. Januar 1972 wurden in den Folgejahren Millionen von Beamten-Anwärter:innen auf ihre politische Gesinnung hin überprüft. Vor dem Hintergrund der linksgerichteten Studentenproteste sollte vermieden werden, dass extremistische „Verfassungsfeinde“ in den Staatsdienst eintreten.
Durchleuchtet vom Verfassungsschutz
Die Auswirkungen waren beträchtlich: Zahlreiche „verdächtige“ Bewerber:innen erhielten keine Anstellung oder bereits Verbeamtete wurden entlassen – was für viele einem Berufsverbot gleichkam.
Aufgrund massiver Kritik wurde der Erlass 1979 von der amtierenden Bundesregierung abgeschafft. In einzelnen Bundesländern war die Regelanfrage beim Verfassungsschutz jedoch bis in die 1990er Jahre gängige Praxis. Der damalige Bundeskanzler Willy Brand bewertete den Beschluss, der unter anderem Personen wie den heutigen baden-württembergischen Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann betraf, im Rückblick als Fehler.
Dokumentation widmet sich dem „Radikalenerlass“
Zum 50. Jahrestag des Erlasses hat Hermann G. Abmayr eine Dokumentation gedreht. Der Journalist und Filmemacher hat sich schon vielfach politischen und gesellschaftlich relevanten Themen gewidmet. Unter anderem recherchierte er für die ARD-Dokumentation „Gesucht wird Josef Mengele“ (1985), die mit dem Grimme-Preis ausgezeichnet wurde. 2019 erhielt er den Willi-Bleicher-Preis für „Wie Menschen abgehängt werden“.
Mit Stefanie Roloff vom Haus des Dokumentarfilms hat Abmayr über seinen Film „Jagd auf Verfassungsfeinde“ gesprochen.
Was hat Sie an dem Thema besonders interessiert?
Hermann G. Abmayr: Der sogenannte Radikalenerlass gehört zu den Tabu-Themen der westdeutschen Nachkriegsgeschichte. Die Jagd auf Verfassungsfeinde nahm teilweise inquisitorische Formen an. Dies traf vor allem die Generationen, die in den 70er und 80er Jahren erwachsen wurden. Viele haben sich deshalb vom Staat abgewandt. Ich meine, dass es an der Zeit ist, dieses dunkle Kapitel aufzuarbeiten und daraus zu lernen. Denn der Beschluss von 1972 hat das politische Klima vergiftet, und er hat zumindest Teile der protestierenden Jugend aus der Debatte um die Zukunft des Landes, um die Zukunft Europas und der Welt ausgeschlossen und weiter radikalisiert.
Worauf ist der Dokumentarfilm fokussiert?
Abmayr: Ich erzähle die Geschichte der Opfer des Extremistenbeschlusses am Beispiel einiger Lehrer, eines Doktoranden und eines Briefträgers. Interessiert hat mich außerdem der Fall Winfried Kretschmann, mit dem ich mich schon vor Jahren beschäftigt hatte. Damals habe ich herausgefunden, dass der heutige Ministerpräsident in Baden-Württemberg wegen seiner linken Einstellung – er war Maoist – zeitweise nicht an staatlichen Schulen unterrichten durfte.
Was war Ihnen bei der Bearbeitung des Themas besonders wichtig?
Abmayr: Neben den beschriebenen Fällen ging es mir auch um die Widersprüche in der Politik in den 70er Jahren. Der Beschluss der Ministerpräsidenten und des Bundeskanzlers Willy Brandt gehört jedenfalls „zu den großen Seltsamkeiten, fast Perversitäten der bundesrepublikanischen Geschichte“, wie es der Kolumnist der Süddeutschen Zeitung Heribert Prantl im Interview ausdrückte. Denn Brandt war Widerstandskämpfer gegen die Nazis und Hans Filbinger, der damalige Ministerpräsident von Baden-Württemberg, in der Nazi-Zeit Teil des braunen Apparats.
Brauchen wir angesichts des Anwachsens von nationalistischen, ausländerfeindlichen und antisemitischen Bewegungen einen neuen Radikalenerlass?
Abmayr: Diese Frage habe ich auch Winfried Kretschmann gestellt. Seine Antwort: Nein, denn ein freiheitlicher Staat gehe von der Verfassungstreue seiner Bürger aus. Nur wenn belastbar Gegenteiliges vorliege, müsse man sich mit diesem Einzelfall auseinandersetzen. Dann müsste beispielsweise ein Disziplinarverfahren eingeleitet werden, wie dies bei der Polizei jüngst mehrmals der Fall war. Ansonsten appellierte Kretschmann an die Zivilcourage der Bürger. Und Heribert Prantl sagt: „Ich kann nicht den Radikalenerlass dadurch adeln und wieder aufleben lassen, dass ich sage, jetzt geht es aber gegen die Rechtsaußen-Leute.“ Die „Durchrasterei einer ganzen Generation durch den Verfassungsschutz“ sei ein Fehler gewesen, der sich nicht wiederholen dürfe.
Preview und TV-Erstausstrahlung
Vor TV-Erstausstrahlung in der ARD zeigt das Arthaus Atelier am Bollwerk Stuttgart „Jagd auf Verfassungsfeinde – Der Radikalenerlass und seine Opfer“ am 09. Januar 2022 um 11.30 Uhr. Moderiert wird die Preview von Goggo Gensch, der für das Haus des Dokumentarfilms unter anderem im Rahmen der Kinoreihe DOK Premiere tätig ist und früher für das SWR Doku Festival verantwortlich zeichnete.
Im Anschluss findet ein Filmgespräch mit dem mehrfach ausgezeichneten Regisseur statt. Daran beteiligt sein werden außerdem zwei Protagonisten des Films: Klaus Lipps, ein betroffener Lehrer und Werner Siebler, ein betroffener Briefträger sowie Martin Schindel, der zuständige Redakteur des Saarländischen Rundfunks. Es gelten die aktuellen Corona-Regeln.
Kartenreservierung unter: https://arthaus-kino.de/specials/sonderveranstaltungen-in-den-stuttgarter-arthaus-kino/
Sendetermine in der ARD
Mo., 17.01.22 | 23:35 Uhr | Das Erste
Wiederholung:
Di., 18.01.22 | 03:30 Uhr | Das Erste
Ab Freitag, den 14.01.22 ist „Jagd auf Verfassungsfeinde“ in der ARD-Mediathek in der Themenwelt „Geschichte im Ersten“ zu sehen.