Berlinale 2022: zwischen Archiv und Gegenwartsbeobachtung
Die Jury für den Berlinale Dokumentarfilmpreis wird es nicht leicht haben. Es konkurrieren 18 starke Filme mit ganz unterschiedlichen Handschriften um die Auszeichnung. Kay Hoffmann stellt drei weitere vor: „Journal d’Amerique“, „Myanmar Diaries“ und „Mis Dos Voces“.
Visuelles Gedächtnis des 20. Jahrhunderts: „Journal d’Amerique“ (Encounters)
Der Film beginnt mit einem starken Bild: Ein riesiges Holzhaus wird mit einem Traktor verschoben. Der Mensch, der Häuser versetzen kann. „Journal d’Amerique“ ist ein reiner Kompilationsfilm, der historische, meist private Aufnahmen, aus Amerika verwendet. Der Zeitraum reicht von den 1910er Jahren bis in die 1970er Jahre. Zwischen den Bildern gibt es einen essayistischen Text über die Familie, Erinnerung, Träume, das Leben und den Tod. Die Worte der Sätze sind in Einzelteile zerlegt. Vieles wird in Sequenzen aufgeteilt, und doch ergibt „Journal d’Amerique“ ein faszinierendes Gesamtbild – vom Regisseur Arnaud des Pallières einmal eine Meditation über „unsere alte Heimat“ genannt.
Strenges Konzept der Montage
Die Bilder beziehen sich nur selten direkt auf die Worte, sondern werden assoziativ eingesetzt. Es gibt thematische Blöcke, wie den Traum eines Jungen von einem dicken Fisch, den er fängt, und die Frage, wie es den kleinen Fischen ergehen würde, wenn Männer Haie wären. Oder die Geschichte vom Vater, der völlig gebrochen aus dem Zweiten Weltkrieg zurückkommt. Dazu Bilder von einer bunten Hochzeit, auf der alle froh und glücklich sind. Erst später findet man heraus, dass es die zweite Hochzeit der Mutter ist, nachdem ihr innerlich zerstörter Mann gegangen ist. Die Aufnahmen müssen keineswegs perfekt sein. Sie sind zum Teil unter- oder überbelichtet oder beginnen sich schon aufzulösen. Das ermöglicht ebenso Assoziationen wie die eher experimentelle Tonspur.
Das Material stammt überwiegend aus dem Prelinger Archiv. Rick Prelinger begann schon in den 1970er Jahren mit seiner systematischen Sammlung. Es wird einmal mehr deutlich, dass Filme (gerade auch Amateuraufnahmen und privates Material) das visuelle Gedächtnis des 20. Jahrhunderts sind. Solches Footage wird auch in anderen Produktionen verwendet, was die wachsende Bedeutung des Materials unterstreicht.
https://www.youtube.com/watch?v=lUUyVPCMgB0
Kampf um Demokratie: „Myanmar Diaries“ (Panorama)
Film ist aber nicht nur Erinnerung, sondern kann auch eine politische Waffe sein. Im Februar 2021 putschte das Militär in Myanmar. Es gab Massenproteste der Bevölkerung, die von den Militärs und der Polizei brutal niedergeschlagen wurden – im ganz wörtlichen Sinn. Die Geschehnisse waren ein paar Wochen lang weltweit Thema in den Nachrichten, doch dann verloren die Ereignisse ihren Neuigkeitswert. Mit seinem Film „Myanmar Diaries“ will ein anonymes Filmkollektiv über die Entwicklung informieren und die Öffentlichkeit wachrütteln.
Gezeigt werden nicht nur Aufnahmen von Protesten, dem brutalen Vorgehen der Machthaber und von Verhaftungen, sondern auch der Alltag unter diesen Bedingungen. Ein Vater arbeitet für den Staat und schließt sich zunächst nicht dem Generalstreik an, um seine Wohnung nicht aufs Spiel zu setzen. Doch letztlich entscheidet er sich doch anders. Zu sehen ist auch ein Paar, das sich durch die Verfolgung der Opposition trennen muss. Sie kommt gar nicht dazu, ihm zu sagen, dass sie schwanger ist. „Myanmar Diaries“ zeigt die alltäglichen Aspekte des Kampfes für Demokratie und Menschenrechte über die TV-Bilder hinaus. Dies ist die Stärke von „Myanmar Diaries“, der sehr berührt.
https://www.youtube.com/watch?v=2JadeAEvfG0
Identität im fremden Land: „Mis Dos Voces“ (Forum)
Eine eigenwillige Form wählte Lina Rodriguez für ihren Dokumentarfilm „Mis Dos Voces“ über drei Frauen, die aus Lateinamerika nach Kanada eingewandert sind. Auch die Filmemacherin selbst war einst von Kolumbien nach Kanada gegangen. Man hört die Frauen schnell auf Spanisch ihre Erfahrungen und Kämpfe um Anerkennung im neuen Land erzählen. Die Zuschauer:innen kommen kaum nach mit dem Lesen der Untertitel.
Die Bilder scheinen für die Regisseurin eine Nebensache zu sein. Oft sind es Fahrten durch Gärten oder Aufnahmen von den Interviewten, die man nicht erkennt, da sie zum Beispiel von hinten aufgenommen sind. Erst ganz am Ende werden sie und ihre Familien gezeigt. In ihren Aussagen wird deutlich, wie wichtig es ihnen ist, in ihrer Muttersprache zu sprechen und dies an ihre Kinder weiterzugeben. Denn die Sprache ist eine Verbindung zu ihrer Kultur und Identität, die sie weiter pflegen wollen.
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