Berlinale 2022: Alternative Lebensgestaltung
Am 20. Februar 2022 ist die 72. Berlinale zu Ende gegangen. Zum Abschluss bespricht Kay Hoffmann vom Haus des Dokumentarfilms noch zwei Filme, die u. a. für den Dokumentarfilmpreis sowie den queeren Teddy Award nominiert waren: „Nelly & Nadine“ und „Nel Mio Nome“.
Liebe zwischen zwei Frauen: „Nelly & Nadine“ (Panorama)
Wochenschauaufnahmen von der Ankunft der weißen Busse mit Überlebenden aus Konzentrationslagern in Malmö am 28. April 1945 beschäftigen den schwedischen Regisseur Magnus Gertten schon seit einigen Jahren. Er versucht, möglichst viele der Geretteten zu identifizieren und ihre Lebensgeschichten zu erzählen. „Nelly & Nadine“ ist sein dritter Film, der mit diesen Transporten zu tun hat – und zugleich eine unglaubliche Liebes- und Lebensgeschichte.
Sie erzählt von Nelly Mousset-Vos und Nadine Hwang, die während des Zweiten Weltkriegs als politische Häftlinge im KZ Ravensbrück interniert werden und sich verlieben. Nach der Verlegung von Nelly ins KZ Mauthausen, verlieren sich die Frauen zunächst aus den Augen. Beide überleben die Konzentrationslager, treffen sich wieder und wandern 1950 zusammen nach Venezuela aus. Hier können sie als „Cousinen“ ein freies Leben führen und genießen es sichtlich.
Geschichte von Emanzipation und sexueller Befreiung
Nelly hat zahlreiche Tagebücher, Briefe, Fotos und Filme vererbt. Damit begibt sich ihre Enkelin auf Spurensuche, um das Leben der beiden und ihre Beziehung zu rekonstruieren. Es wird deutlich, dass Nadine schon vorher lesbische Beziehungen hatte und in den 1930er Jahren in Paris eine der Geliebten von Natalie Clifford Barney war. Barney verantwortete einen legendären Literatursalon und gründete die „Académie des Femmes“, nachdem in der „Académie Française“ bis 1980 keine Frauen aufgenommen wurden. In Nellys Familie in Frankreich wird nicht über ihre lesbische Liaison gesprochen. Es ist ein Tabu, bis die Enkelin schließlich mit den Recherchen beginnt, die sie lange vor sich hergeschoben hatte.
https://www.youtube.com/watch?v=6cVi0gwobeg
Ausgezeichnet mit dem TEDDY Jury Award
Mit behutsamer Musik, starken Bildern und Privataufnahmen gelingt Magnus Gertten ein beeindruckender Film über ein lange verdrängtes Kapitel der Geschichte. „Nelly & Nadine“ ist zugleich ein Beispiel, wie man das eigene Leben mit gesundem Selbstbewusstsein gestalten und gegen alle Widerstände durchzusetzen kann. Der Film wurde beim 36. TEDDY Award mit dem Jury Award ausgezeichnet.
Die Begründung lautet: „Dieser Film veranschaulicht die Notwendigkeit queerer Geschichte und eines queeren kollektiven Gedächtnisses des Zweiten Weltkriegs, während er gleichzeitig den vergessenen Opfern und Überlebenden des Holocausts die längst nötige Anerkennung zuteilwerden lässt. Er spricht über nicht erwähnte lesbische Biografien und ungehörte Stimmen. All diese wichtigen Bereiche abzudecken, würde sich für die meisten Filme als schwierig erweisen, aber mit NELLY UND NADINE und ihrer außergewöhnlichen Liebe, die allen Widrigkeiten zum Trotz überlebt hat, bekommen wir diese Geschichte von Mut und Widerstandskraft, die mit Anmut erzählt wird und bei jedem Zuschauer einen bleibenden Eindruck hinterlässt.“
Der queere Preis wird in den Kategorien Kurz-, Dokumentar- und Spielfilm an Filme mit LGBTIQ-Hintergrund aus dem gesamten Berlinale-Programm vergeben. Als bester Dokumentarfilm wurde „Alis“ ausgezeichnet. Alle Preisträger sind auf der Homepage aufgelistet: www.teddyaward.tv
Transgender in Bologna: „Nel Mio Nome“ (Panorama)
Das eigene Leben individuell zu gestalten, ist auch das Ziel von Leo, Nic, Raff und Andrea in Bologna. Sie wollen ihre Geschlechtsidentitäten selbst bestimmen und gehen damit offensiv um. Sie betreiben einen Podcast zum Thema, tauschen sich intensiv untereinander aus. Der Dokumentarfilm „Nel Mio Nome“ von Nicolò Bassetti begleitet sie bei ihrem Kampf gegen gesellschaftliche Hürden und Vorurteile. Denn in Italien gibt es rechtliche und soziale Herausforderungen, die eine Geschlechtsanpassung erschweren. Dies fängt schon bei einem neuen Vornamen und der Änderung der eigenen Papiere an, was im Filmtitel „Nel Mio Nome“ angedeutet wird.
Den vier Protagonisten hilft ihre Solidarität untereinander und dass sie sehr offen über ihre Probleme sprechen können. Der Film konzentriert sich ganz auf die vier Trans-Männer und ihre Freunde. In diesem Umfeld scheint das Ziel, ihr eigenes Leben zu gestalten, zu gelingen. „Nel Mio Nome“ ist ein Film, der allen Mut macht, die einen ähnlichen Weg gehen wollen.