Die Jury-Entscheidungen zeigen es: Bei der 72. Berlinale waren sowohl Filmemacherinnen als auch starke Protagonistinnen zahlreich vertreten und wurden mit Bären belohnt. Das trifft auf den fiktionalen und den dokumentarischen Film gleichermaßen zu.
Rollen werden durchbrochen, es gibt Drehbücher für Frauen über 25 und die Themen sind breit angelegt. Die gut ausgebildeten Filmemacherinnen sind zahlreich und sie haben sich den roten Teppich erobert, so wie ihre Filme die Leinwand bereichern. Eine Auswahl dreier Dokumentarfilmproduktionen zeigt die thematische Vielfalt und das breite Spektrum des künstlerischen Ausdrucks auf.
„Ladies Only“ (Perspektive Deutsches Kino)
Der in Schwarz-Weiß gedrehte Dokumentarfilm „Ladies Only“ lief in der Sektion Perspektive Deutsches Kino. Kaum hat der Film begonnen, findet man sich schon mittendrin im Gedränge der Nahverkehrszüge Mumbais. Wer meint, unsere Stadtbahnen seien in der Rush Hour überfüllt, sollte sich diesen Film ansehen. Es wird gestopft, gestoßen, gedrückt, gerempelt, bis alle Personen Platz in den Frauen vorbehaltenen Abteilen gefunden haben. So beginnt „Ladies Only“, der die Zuschauenden mit auf eine Reise in die weibliche indische Gesellschaft nimmt.
Eine Reise durch Mumbai
Der Abschlussfilm der indischen Regisseurin Rabana Liz John (sie ist Absolventin der Kunsthochschule für Medien Köln) ist ein feministisches Porträt moderner indischer Großstädterinnen. Sie äußern einerseits, dass sie größere Chancen auf Bildung und Karriere haben als es noch ihre Mütter gehabt hatten, jedoch noch lange nicht auf Augenhöhe mit Männern in der indischen Gesellschaft angekommen seien. Es sei undenkbar, dass häusliche Tätigkeiten von Männern ausgeübt würden – Mädchen würden weiterhin stark reguliert.
Mehrfach bekommen die reisenden Frauen ein Gedicht zu lesen, in dem es um Freiheit und ein unabhängiges Leben für Frauen geht. Alle setzen sich ernsthaft mit dem Text auseinander und übertragen ihn auf das eigene Leben. So entsteht ein Potpourri weiblicher Gedanken zum weiblichen Alltagsleben.
Freiheit, Bildung, Gleichheit
Rebana Liz John schreibt über ihren Film: „Mit einer feministischen Linse wollte ich erforschen, was Ambitionen und Freiheiten für Frauen in einer hochindustriellen, wohlstandsorientierten und komplexen Welt bedeuten. Die Tiefe, die sich in den Gesprächen herstellte, hat wohl auch mit der Flüchtigkeit der Begegnung in einem fahrenden Zug zu tun.“
„Ladies Only“ nimmt seine Zuschauer:innen achtzig Minuten lang mit auf eine Fahrt durch die Metropole Mumbai, lässt sie viele Frauen jeden Alters en passant kennenlernen und ganz nebenbei auch die wilde Mischung aus Kulturen, Sprachen, Religionen und Gesichtern erfahren.
„Ladies Only“ gewinnt den Compass-Perspektive-Preis
„Ladies Only“ wurde bei der 72. Berlinale mit dem Compass-Perspektive-Award ausgezeichnet. Er ist mit 5.000 Euro dotiert. Die Jury würdigt ihn als „rohen, ehrlichen Film, der sich auf das Wesentliche konzentriert und durch seine Entschlossenheit und formale Klarheit besticht“ und lobt den „Mut, eine so reduzierte Geschichte zu erzählen, genau hinzuschauen und einen gesellschaftsrelevanten Film aus dem Alltag zu produzieren.“ Die „sichtbare Akzente und Kontraste schaffende Montage“ sowie das „fein ausgearbeitete Sounddesign“ würden zusätzlich dazu beitragen, dass aus dem öffentlichen Raum des Zugabteils ein intimer Raum entstehen könne.
„Bettina“ (Panorama Dokumente)
Angefangen hatte Bettina Wegner mit Liebesliedern, traurig schön, sie blutjung und tragisch in die Kamera schauend, wie Schwarz-Weiß-Aufnahmen von ihren Auftritten im DDR-Fernsehen bezeugen. Das mag für all jene neu sein, die sie doch eher unter Schlagworten wie DDR-Protestlied, „Sind so kleine Hände“ und Ausweisung abgespeichert hatte.
Doch Lutz Pehnert – der Film lief in Panorama Dokumente – zeigt in seinem Porträt „Bettina“ die vielen Gesichter und das turbulente Leben der Liedermacherin Bettina Wegner vom berlinernden Kind hin zur Proteststimme der DDR in den 1970/80er Jahren. „Es gab Taschengeld: fuffzich Pfennje. Für jedet Berliner Wort wurd mir een Pfennich abjezogen. Hab ick also keen Taschenjeld mehr jeseh’n. Hab ick mir jesacht: Kannste ooch berlinern“, erzählt sie gleich zu Anfang des Films von ihrer Kindheit und von Eltern, die wünschten, dass sie Hochdeutsch spräche.
Worte voller Schönheit, Entschlossenheit und Traurigkeit
Der vom rbb koproduzierte Film nähert sich Bettina an über das, was sie ausmacht: das Wort. Gesungen oder gesprochen. Sie ist eine vielschichtige, klar formulierende Protagonistin, deren Lebenserzählung weite Teile des Films gestaltet. Dazu kommen Archivaufnahmen aus dem Alltagsleben in der DDR, die von Ausschnitten aus ihren Liedern kommentiert werden. Tonprotokolle ihrer Vernehmung und Verurteilung wegen „staatsfeindlicher Hetze“ – sie hatte Flugblätter gegen den Einmarsch sowjetischer Truppen in Prag verteilt – geben Struktur.
Wegner erzählt von ihrer ersten Liebe Thomas Brasch, der sie verließ als sie schwanger war. Wie sie durch das Kind erwachsen wurde. Wie sie ihre dritte Liebe wegen einer Affäre mit Oskar Lafontaine verlor und was es für sie bedeutete, in der Heimat nicht mehr auftreten zu dürfen. „Ich hab Heimweh nach Heimat“ heißt eines ihrer Lieder. Nach ihrer Ausweisung aus der DDR im Jahr 1983 fühle sie sich entwurzelt, sagt Wegner und habe seither keine Heimat mehr finden können.
Die Kunst des Aufrechtstehens
Welchen Wert haben ihre Lieder heute noch oder waren sie nur in einer bestimmten Zeit wichtig? Diese Frage stellte sich Lutz Pehnert und er stellt sie auch dem Publikum. Ihre klare Haltung habe ihn sehr beeindruckt, sagt der Filmemacher. Was man in ihren Liedern höre sei ein großer Moralismus, nicht als Moralkeule, sondern ein bei sich Selbstbleiben, sich nicht korrumpieren lassen, bei sich Selbststehen. Dadurch sei sie immer wieder angeeckt in der DDR.
Kein Lied drückt das so gut aus wie „Zehn Gebote für mein Leben“, das im Film in ganzer Länge zu hören ist und in dem es heißt: „aufrecht stehn, wenn andre sitzen, Wind zu sein, wenn andre schwitzen, lauter schrein, wenn andre schweigen, beim Versteckspiel sich zu zeigen…“. Bettina Wegner gibt, mittlerweile 74-jährig, weiterhin Konzerte – und ihre Stimme und Texte gehen nach wie vor unter die Haut. Der Kinostart von „Bettina“ ist für Mai 2022 geplant.
„Mutzenbacher“ (Encounters)
Das Werk, in dem die österreichische Dokumentarfilmerin Ruth Beckermann mit rund 75 Männern über den Skandalroman „Josefine Mutzenbacher – Die Geschichte einer Wienerischen Dirne“ und letztendlich über Sexualität im Allgemeinen und im Persönlichen spricht, wurde als bester Film in der Festivalsektion „Encounters“ ausgezeichnet. Die Sektion „Encounters“ bietet ästhetisch und strukturell wagemutigen Arbeiten von unabhängigen, innovativen Filmschaffenden eine Plattform. Ziel ist, es neue Perspektiven des Kinos zu fördern und der Vielfalt narrativer und dokumentarischer Formen mehr Raum in der offiziellen Auswahl zu schaffen.
Männer auf der Besetzungscouch
Ruth Beckermann lud über 100 Männer für ein Casting ein, zwischen 16 und 99 sollten sie sein. Gefragt war ihre Bereitschaft, sich mit dem Text „Josefine Mutzenbacher“ auseinanderzusetzen. Eine rosa geblümte Couch stand bereit – die berühmte Besetzungscouch. Auf ihr sitzen die Männer mal allein, mal zu zweit oder zu viert, lesen die Textpassagen vor, die ihnen gereicht werden und reden darüber. Es sind Stellen, die eindeutig sexuellen Missbrauch eines Kindes beschreiben.
Manche sind verlegen oder schockiert, manche finden den Text „geil“ und rechtfertigen es damit, dass das Kind ja offensichtlich Lustgefühle beschreibe. Die Regisseurin stellt freundlich, aber bestimmt, Fragen aus dem Off oder gibt Regieanweisungen. Teilweise nehmen ihre klaren Forderungen die Strenge einer Domina an.
Roman über sexuellen Kindesmissbrauch
Als Wienerin habe sie das Thema „Mutzenbacher“ schon lange beschäftigt, sagte Beckermann im Interview mit Carlo Chatrian, künstlerischer Leiter der Internationalen Filmfestspiele Berlin. Als sie 2020 wegen Corona andere Projekte nicht realisieren konnte, recherchierte sie umfangreich zu dem Roman: Was hat es mit dem „Bambi“-Autor Felix Salten auf sich, dem die Autorenschaft zugeschrieben wird? Und wie waren die Gegebenheiten im Arbeitermilieu großer Städte, wie Wien, zu Beginn des 20. Jahrhunderts? Eine männliche Autorenschaft hält Beckermann für gegeben, aber Felix Salten nicht für den Schöpfer des Werkes.
In dem Roman erzählt eine fünfzigjährige Prostituierte im Rückblick über ihr Leben. Auffallend an dem Lebensbericht sind die mehrfache Betonung und stete Wiederholung des lustvollen Genusses der Romanfigur, die als Kind und Teenager alle sexuellen Zudringlichkeiten neugierig erduldet, ja, sie sogar herbeisehnt. Diese Männerfantasie wollte Ruth Beckermann nicht mit Frauenbildern illustrieren oder von Frauen sprechen lassen.
Entstanden ist ein äußerst unterhaltsamer Film, der aus dem Berlinale-Programm herausstach. Er sorgt für Spaß in der Vorführung, unter anderem bei den Sprechchören, bei denen anzügliche Worte in den Raum hineingeschrienen wurden – immer und immer wieder, auf Anweisung der Regie und gar nicht „politically correct“. Herzlichen Glückwunsch zum Preis!