Die Sektion Generation KPlus und 14Plus erzählt Geschichten aus der Sicht von Kindern und Jugendlichen. DOKVILLE Kuratorin Astrid Beyer stellt „Kalle Kosmonaut“ vor und verrät, welcher Dokumentarfilm den Gläsernen Bären gewonnen hat.
Die Allee der Kosmonauten führt durch die Berliner Bezirke Lichtenberg und Marzahn-Hellersdorf. Entlang der Allee erstrecken sich Gewerbe- und große Wohngebiete in elfgeschossiger DDR-Plattenbauweise der 1970er und -80er Jahre. Wer hier aufwächst, dessen Weg führt selten zu den Sternen. So wie der von Pascal, den alle Kalle nennen. Wir lernen ihn als zehnjährigen Jungen kennen und begleiten ihn 100 Minuten und zehn Jahre lang auf seinem Weg ins Erwachsensein.
„Kalle Kosmonaut“ – eine Langzeitbegegnung
Tine Kugler und Günther Kurth lernten Pascal im Jahr 2011 bei Recherchen für eine 37°-Reportage über sogenannte „Schlüsselkinder“ kennen. „Er war so offen, so klug und neugierig“, sagte Tine Kugler beim Filmgespräch zur Premiere von „Kalle Kosmonaut“ im Haus der Kulturen der Welt in Berlin. „Wir wollten mehr über ihn erfahren und einen Film über ihn machen“. Dass daraus zehn Jahre wurden, mit vielen Höhen- und Tiefen, mit Momenten, in denen ihr Protagonist nicht mehr in dem Film sein wollte oder in denen er seine Zeit im Jugendgefängnis Berlin-Plötzensee verbrachte, ist der Ausdauer und Behutsamkeit der beiden Filmeschaffenden zu verdanken. Und natürlich Kalles Familie und seinen Freunden, die sich in ihrem Alltag ungeschönt filmen ließen.
Vertrauen und vertraut sein
Das Münchner Duo Kugler und Kurth führte viele Gespräche, in denen Kalle von sich und seinen Träumen erzählt. Von den Auseinandersetzungen mit seiner Mutter, der großen Sehnsucht nach seinem Vater, dem er egal ist, seinen Unsicherheiten, wie es nach dem Gefängnis weitergehen soll. Wir lernen seine Mutter kennen, die sich Gedanken darüber macht, warum ihr Sohn straffällig geworden ist und an seinem 18. Geburtstag Raketen in die Nacht schickt, damit er sie im Gefängnis sehen kann. Seine Oma, die darüber spricht, warum sie alkoholabhängig war, den Opa, der sich die DDR zurückwünscht, die Polizistin, die Kalle gut kennt und ihn für einen guten Jungen hält. Man spürt bei allen Gesprächen das große Vertrauen den Filmschaffenden gegenüber. „Über all die Jahre sind wir Freunde geworden“, sagt Tine Kugler, „das ist einfach passiert und es ist eine große Bereicherung“.
Animation und Rap
Der Dokumentarfilm „Kalle Kosmonaut“ ist ein intimes Porträt, das die über Jahre entstandene Nähe ausdrückt. Wo Filmszenen fehlen – die Straftat und Haftzeit – übernehmen Animationen den Part. Sie wurden von dem Künstler Alireza Darvish gezeichnet. Es sind dunkle, atmosphärische Bilder, die Realität und Albtraum gleichermaßen einfangen. Denn Albträume plagen Kalle. Seine Coolness ist Schau, das äußert er sogar im Film.
Wer Kalle kennenlernen möchte, sollte seinem Rap zuhören. Ein wunderschönes Liebesgedicht tippt er ins Handy an seine Freundin. Seine Erfahrungen in der Plattenbausiedlung, in der Gesellschaft oder die Zeit im Gefängnis, im Rap findet Pascal Worte für das Erlebte und für seine Sehnsüchte.
Auf der Bühne bei der Premiere
Nach der Premierenvorstellung von „Kalle Kosmonaut“ gibt es brandenden Applaus. Alle sind gekommen: seine Freunde, seine Familie, die Polizisten aus dem Kiez und die ZDF-Redakteure Jörg Schneider und Lucas Schmidt von „Das Kleine Fernsehspiel“. Pascal steht mit beiden Filmschaffenden auf der Bühne und sagt in seiner entwaffnenden Art: „Mensch Leute, ich steh hier ganz alleine und ihr seid mehrere Hundert. Ich bin total aufgeregt“. Wo man ihn rappen sehen könne, fragt eine Zuschauerin. „Im Moment gar nicht“, sagt Pascal, denn er brauche immer so lange für die Texte und deshalb sei das keine Karrieremöglichkeit für ihn.
Generation 14Plus
Im Fokus der Sektion Generation KPlus und 14Plus stehen bei der Berlinale Filme, die in ihren Erzählungen und ihrer Filmsprache Kinder und Jugendliche ernst nehmen und Geschichten aus der Sicht ihrer jungen Protagonist:innen erzählen. Das diesjährige Motto lautete „Sag es!“. Es ging um Worte, um Poesie, gesungen, gesprochen, gefühlt. „Worte bergen Wahrheiten und Lügen, sie verletzen, besänftigen, bestärken und bringen uns zum Lachen … Auf der Leinwand im 45. ‚Generation‘-Programm“, so Maryanne Redpath, die Leiterin der Sektion.
Gläserner Bär 2022 geht an „Alis“
Im diesjährigen Wettbewerb liefen zwölf Langfilme, von denen fünf eine dokumentarische Form hatten. Den Gläsernen Bären erhielt „Alis“, ein Dokumentarfilm über zehn junge Frauen, die früher auf den Straßen Bogotás lebten. Sie schließen ihre Augen und erträumen sich Alis, eine fiktive Freundin, die zur Projektionsfläche ihrer eigenen Erfahrungen und Träume wird. Clare Weiskopf und Nicolás van Hemelryck führten Regie. Der Film ist eine Koproduktion der Länder Kolumbien, Chile und Rumänien.
Aus der Begründung der Jury: „Ein bewegender Film, der mit einfachsten Mitteln eine unglaubliche Nähe und Intimität schafft. Auf behutsame Art und Weise werden die Protagonistinnen und auch das Publikum mit Schmerz und Erinnerungen konfrontiert. Wie gelingt es mir, meine Vergangenheit aufzuarbeiten, ohne daran zu zerbrechen? Mit beeindruckender Ehrlichkeit und Direktheit beantwortet der Film diese Frage.“