Streiflichter IDFA 2018: Von Zäunen, Rassisten, Genexperimenten
Eine Bandbreite unterschiedlicher Themen erzählt in der Fülle filmischer Handschriften. Das war das 31. Internationale Dokumentarfilmfestival Amsterdam, das vom 14. bis 25. November 2018 stattfand. Dokville-Kuratorin Astrid Beyer besuchte für Dokumentarfilm.info das größte internationale Dokumentarfilmfestival und schildert einige ihrer Beobachtungen. Darunter u.a. die neuen Dokumentarfilme von Nikolaus Geyrhalter (»Die bauliche Maßnahme«) und Fredrick Wiseman (»Monrovia, Indiana«).
Wer das Amsterdamer Programm genauer ansieht, entdeckt einige Themen, die weltweit aus unterschiedlicher Perspektive erzählt werden. Eines, der Aufstieg rechtsextremer Parteien, verbindet Filmemacher in USA, West- und Osteuropa, Indien oder Latein-Amerika miteinander. Weitere globale Themen sind Krieg und dessen Auswirkungen wie Flucht, Flüchtlingslager, Armut, vor allem Kinderarmut und Traumatisierung. Umwelt ist ebenfalls ein weiterer großer Themenkomplex sowie Filme von Frauen über Frauen und deren Lebensbedingungen weltweit.
Das größte internationale Dokumentarfilmfestival
IDFA ist das größte, internationale Dokumentarfilmfestival und findet seit 1988 jährlich in Amsterdam statt. Ende der 1980er Jahre gründete Ally Derks das »Cannes für Dokumentarfilme« vor dem Hintergrund von Glasnost und Perestroika. Eine große russische Delegation reiste an, im Gepäck 35mm-Filme, die keiner der Veranstalter vorher angesehen hatte. Es wurden insgesamt 50 Filme gezeigt und 2000 Tickets verkauft. Dreißig Jahre später: 4000 Filme wurden eingereicht, von denen 275 im Festival liefen, 22 Preise wurden verliehen und über 250.000 Tickets verkauft. Und das Festival hat mit Orwa Nyrabia seit Januar 2018 einen neuen künstlerischen Leiter bekommen. Doch eins ist geblieben: die entspannte Atmosphäre mitten in der Amsterdamer Innenstadt.
Neue Programmsektionen
Mit Luminous, Frontlight und IDFA On Stage hat der syrische Filmemacher neue Programmsektionen geschaffen, die ehemalige Panorama Sektion ist entfallen. Spezielle Fokus-Programme wie Me, Space und Serialized greifen Themen und Entwicklungen auf, die im regulären Programm untergehen würden. Me zeigt persönliche, autobiographische Dokumentarfilme, ist aber kein Aufruf zur Einreichung nazistischer, selbstzentrierter Arbeiten. »Was meiner Meinung nach, zählt, ist die Anerkennung des völligen Versagens aller, die versuchen, im Dokumentarfilm objektiv zu sein«, erklärt Nyrabia die Überlegungen, die hinter dem neuen Programm Me stehen. »Es ist die Darstellung des Subjektiven, ob autobiografisch, persönlich oder als Film, in dem das eigene Ich des Filmemachers im Film ist.« Zwanzig Filme unterschiedlicher Jahrgänge wurden für die Sektion ausgesucht, darunter »News from Home« von Chantal Ackerman (1977), »Happy Birthday, Mr. Mograbi« von Avi Mograbi (1999) oder »Heart of a Dog« von Laurie Anderson, 2015.
Im Wettbewerb: »The Border Fence« von Nikolaus Geyrhalter
Im Wettbewerb für den langen Dokumentarfilm und im Fokus Programm Space lief Nikolaus Geyrhalters »The Border Fence« (auf Deutsch »Die bauliche Maßnahme«) über das Vorhaben der österreichischen Regierung im Frühjahr 2016 einen Zaun auf dem Grenzpass Brenner zu errichten, um Österreich vor einem erneuten Flüchtlingsansturm zu schützen. Zwei Jahre lang hat Geyrhalter die Region rund um den Brenner gefilmt und mit Menschen gesprochen, die in dieser Grenzregion leben.
Seine Interviews sind tableauartig und statisch aufgenommen. Die Gesprächspartner stehen mittig im Bild und blicken direkt in die Kamera. Sie strahlen eine große Ruhe aus. Es kommen Menschen zu Wort, die sich einerseits vor der »baulichen Maßnahme« fürchten, aber ebenso vor der vermeintlich drohenden Überfremdung ihrer Heimat Tirol. Sie fühlen Empathie für die Not der Flüchtlinge und helfen ihnen. Gleichzeitig treibt sie die Angst um, zur Minderheit in ihrer Region zu werden. Diese Angst wird von politischen Stimmungsmachern geschürt, u.a. von Sebastian Kurz, dem damaligen österreichischen Bundesminister für Europa, Integration und Äußeres.
Am Ende des Films liegt der Zaun immer noch zusammengerollt im Container, er wird alle zwei Jahre kontrolliert, ob er noch »gut« ist, das neu errichtete Registrierungszentrum ist nie in Betrieb gegangen und der befürchtete Flüchtlingsansturm ausgeblieben. Nikolaus Geyrhalter gelingt ein vielschichtiges Bild der Region und unserer Zeit mit ihren vielen Einheizern und Angstschürern. Ein Film, der einige humorvolle Momente hat, sicherlich nicht unter »feel-good movie« fällt und am besten im Kino angeschaut werden sollte.
Die Meister: Schöpfungsgeschichte 2.0, Neue Heimat und Small Town Amerika
In der Reihe »Masters« waren in diesem Jahr 26 Regisseurinnen und Regisseure vertreten. Sie sind alle mehrfach ausgezeichnet, arbeiten seit Jahren als Dokumentarfilmer und stellten 2018 ihre neuen Filme auf wichtigen, internationalen Festivals vor. Mit dabei waren u.a. Werner Herzog, Margarethe von Trotta, Sergei Loznitsa, Christian Frei, Barbara Kopple und Frederick Wiseman.
Freis »Genesis 2.0« feierte Anfang des Jahres seine Premiere auf dem Sundance Filmfestival in Utah, USA. Mit seinem neuen Dokumentarfilm gelingt Christian Frei der Spagat zwischen archaischer Welt – Sammler von Mammutstoßzähnen auf einer abgelegenen sibirischen Inselgruppe unter lebensgefährlichen Bedingungen – und moderner Genforschung, rund um den Molekularbiologen George Church, einer kommerziellen Klon-Fabrik in Südkorea, die Hundeliebhabern ihren verstorbenen Hund klont, sowie einer Gen-Datenbank in China. Das ist eine komplexe Materie für einen zwei Stundenfilm, aber es gelingt Frei, den abenteuerlich spektakulären Bildern der Stoßzahnsammler, die tatsächlich ein intaktes Mammut finden, das geklont werden könnte, mit den Deklarationen der nächsten technologischen Weltrevolution zu verbinden.
Wenn der chinesische Institutsleiter lächelnd erklärt, Gottes Schöpfung sei nicht perfekt, aber nun habe man die Technologie, um sie besser zu machen oder die PR-Frau der Gen-Bank auf die Frage nach den ethischen Implikationen der pränatalen Selektions-Diagnostik mit absolutem Unverständnis und Mitleid für den Fragenden reagiert, dann wird »Genesis 2.0» schlichtweg gruselig. Es ist ein bild- und musikgewaltiger Film, der Mitte Januar 2019 in deutsche Kinos kommen wird.
Barbara Kopple begleitet in ihrem jüngsten Film »New Homeland« vier Jugendliche aus Syrien und dem Irak auf ihrem Weg in die kanadische Gesellschaft. Sie und ihre Familien gehören zu den 60.000 Kriegsflüchtlingen, die Kanada seit 2016 aufgenommen hat und die in ihrem ersten Jahr von kanadischen Privatsponsoren betreut werden (das kanadische System der Sponsorenpatenschaft heißt, dass Privatpersonen um die 20.000 Dollar investieren, damit die Flüchtlinge bleiben können), um sich nicht nur in der kanadischen Gesellschaft zurecht, sondern auch einen Job zu finden, um bleiben zu dürfen. Die zweifache Oscar-Preisträgerin (1977 für »Harlan County« und 1991 für »American Dream«) zeigt die Flüchtlinge als Individuen, die aufgrund von Krieg ihre Heimat verlassen mussten, die sich Sorgen um ihre Zukunft machen und das Beste für ihre Kinder wollen. Der Film tritt bewusst politischen Demagogen entgegen, die Flüchtlinge als Gefahr für die Demokratie sehen und sie als anonyme bedrohliche Masse darstellen.
Vor dem Hintergrund zunehmender Fremdenfeindlichkeit in den USA erzählt die amerikanische Dokumentarfilmerin eine Geschichte von Aufgeschlossenheit, Empathie und Verständnis – die in Kanada stattfindet.
Sechsundvierzig Millionen Amerikaner leben in einer ländlichen Kleinstadt. Diese Städte waren einst das Rückgrat des amerikanischen Traums. Doch während ihre Zahl und Bevölkerung zurückgegangen ist, wurde bei den Präsidentschaftswahlen 2016 die Bedeutung des ländlichen Amerika als prägendes Zentrum der amerikanischen Politik und Werte demonstriert.
Frederick Wiseman folgt diesem kleinstädtischen Leben in seinem neuen Film »Monrovia, Indiana« und zeigt Vielschichtigkeit. Während er zu anfangs Klischees bedient, Crew-cut, auch bei Kleinkindern im Friseurladen, übergewichtige Bewohner bei ihrer Lieblingsbeschäftigung, dem Essen, wird der Film zunehmend differenzierter. Ein Mosaik aus sehr unterschiedlichen Aktivitäten und Gesprächen, eine Gesellschaft, die Werte lebt und vermittelt, die größtenteils rassistisch ist und vor allem eins: weiß. »Monrovia, Indiana« ist ein harter Blick des 88-jährigen Dokumentarfilmers auf eine ländliche Lebensweise im mittleren Westen der USA, die in Amerika schon immer dominant war und deren Einfluss und Kraft in den Großstädten an der Ost- und Westküste verkannt wird.