„Cicero – Zwei Leben, eine Bühne“ widmet sich der Doppelbiografie von Eugen und Roger Cicero. Vater und Sohn, zwei begnadete Jazzer. Ein Film wie ein Musikstück. Sorgfältig komponiert, mit fließenden Übergängen und der Freiheit für Verzierungen, Bögen, solistische Passagen.
Im Zentrum des Dokumentarfilms: Klaviervirtuose Eugen Cicero , der als „Oscar Peterson Europas“ gilt, und sein Sohn Roger Cicero, der als Jazz-Sänger mit eingängigem Swing unzählige Fans bewegte. Beide verbindet nicht nur das Ausnahme-Talent – auch ihr tragischer Tod eint. Eugen starb 1997 mit nur 57 Jahren, Roger 2016 mit nur 45 Jahren; sie wurden durch einen Hirnschlag viel zu früh aus dem Leben gerissen.
Zwei bewegende Karrieren
„Sie hatten einen unglaublich ähnlichen Werdegang. Diese Parallelen waren der Auslöser für den Wunsch, ihre Leben in einem Film zu erzählen“, führt Autorin und Ko-Produzentin Katharina Rinderle bei der DOK Premiere vom Haus des Dokumentarfilms aus. „Eugen tingelte zunächst als unbekannter Barmusiker durch Deutschland. Er hatte das Glück, auf Charly Antolini zu treffen, wodurch sich ihm alle Türen geöffnet haben. Auch Roger tingelte nach seinem Studium in Amsterdam erst einmal mit der First Show Band durch die Lande. Als er dann in Hamburg war, konnte er sein Talent zwar schon zeigen, aber nur im Umfeld von Angie’s Nightclub. Das lief alles noch unterm Radar. Roger musste sich erst freischwimmen und aus den großen Fußspuren des Vaters treten, aber er hat schließlich im Gegensatz zu Eugen geschafft, die Hallen zu füllen.“
Musikalisch am glücklichsten wirken beide jedoch nicht auf den großen Showbühnen, wo sie sich durchaus verbiegen müssen, um den Geschmack der Massen zu treffen. Gerade ihre kleineren Nebenprojekte sind es, die es ihnen erlauben, ihrem künstlerischen Ausdruck und Anspruch authentisch gerecht zu werden. Der Spagat zwischen Broterwerb und künstlerischer Integrität gelingt ihnen mal mehr, mal weniger gut und wird nicht selten von Alkohol- und Drogen-Eskapaden sowie generell von einem hohen Maß an Perfektionismus und Selbstkritik flankiert.
Und auch noch etwas anderes als die Musik verbindet Eugen und Roger Cicero: In der Vaterrolle blühen sie auf. Ihre Familien geben ihnen Halt und einen Ort, an den es immer lohnt zurückzukehren.
Langer Prozess bis zum fertigen Film
Bereits vor gut einem Jahrzehnt beginnt die Arbeit an „Cicero – Zwei Leben, eine Bühne“, der zum Kinostart am 23. März 2022 in Ludwigsburg und 24. März 2022 in Stuttgart gezeigt wurde. „Wir haben 2012 die ersten Aufnahmen in einem kleinen Team und noch in einer ganz anderen Konstellation gemacht“, erzählt Katharina Rinderle. „Doch dann kam das tragische Schicksalsjahr 2016 – am 24. März verstarb Roger Cicero. Den jungen Regisseur aus Rumänien, der für das Projekt eigentlich vorgesehen war, hat Rogers Tod umgehauen. Mir war aber sofort klar, dass ich jetzt nicht aufhören kann. Ich habe versucht, ihm noch ein halbes Jahr die Hand zu reichen, um ihn aus dem Tal herauszuführen, aber ich merkte irgendwann, dass es keinen Zweck hat. Das war ein Wendepunkt! Ich wusste, wenn ich den Film irgendwann auf die Leinwand bringen möchte, dann geht das nur, wenn ich das Ganze nochmal neu aufstelle.“
Interviews und persönliche Perspektiven
Mit Kai Wessel engagiert sie einen musikaffinen Regisseur, den man sonst vor allem aus dem fiktionalen Bereich kennt, sowie die Editorin Tina Freytag, die seine Filme seit Jahren durch ihre Montage bereichert. „Wir drei waren schnell auf einer Wellenlänge und wurden zu einem eingeschweißten Team“, erinnert sich Rinderle. Diese gute Chemie ist auch dringend nötig, denn neben zahlreichen Archiv-Aufnahmen und Musikwerken wird der Film maßgeblich durch Interview-Sequenzen getragen, die teils parallel zu den Drehs geschnitten werden.
Rund 50 der engsten Wegbegleiter kommen in „Cicero – Zwei Leben, eine Bühne“ zu Wort. „Es war Kai sehr wichtig, dass es wie ein Zusammenkommen an einem Tisch ist, wo die engsten Familienmitglieder, Musiker, Freunde, Wegbegleiter sitzen und die beiden Leben aus ihren Perspektiven beleuchten“, führt Rinderle aus. Unter den illustren Namen finden sich u. a. Decebal Badila (Bassist der SWR Big Band und fast schon ein Ziehsohn von Eugen Cicero), der legendäre Schweizer Jazz-Schlagzeuger Charly Antolini, Deutschlands Vorzeige-Trompeter Till Brönner, Entertainer und Pianist Joja Wendt, Autor Rainer Wallraf, Keyboarder Maik Schott, die Branchenvertreter Karin Heinrich, Freddie de Wall und Lars Ingwersen oder auch Eugen Ciceros zweite Lebensgefährtin Angelika E. Meier und Rogers Halbschwester Christiana.
„Die Interviews, die wir geführt haben, waren jeweils rund zwei bis drei Stunden lang, doch an Ende sind von jedem nur ein paar Szenen und Sätze drin. Mein Team und ich haben die Gespräche alle transkribiert, damit man thematisch springen konnte.“ Im Montage-Prozess spannen sich plötzlich überraschende Bögen auf. „Es gibt zum Beispiel diese eine Interview-Szene, in der Eugen am Flügel Roger zum Geburtstag gratuliert. Das ‚Happy Birthday‘ steht in genau derselben Tonart wie das 20 Jahre später, als Roger von seinen Freunden gefeiert wird. Solche Perlen sind einfach auf einmal da.“
Archiv-Material und Rechteklärung
Zu den Interviews kommt, natürlich, jede Menge Musik. „Manche Sachen flogen uns förmlich zu. Sie haben wir von Musikern erhalten, darunter vor allem tolle Aufnahmen von Roger. Für andere haben wir wochen-, manchmal jahrelang jeden Stein umgedreht. […] Das war eine Sisyphos-Arbeit. Auch nach Tonspuren von Livekonzerten habe ich mich quer durch die Republik auf die Suche gemacht. Das waren teils Masterbänder, die eigentlich schon als verschollen galten.“
Doch auch, wenn das Material erst einmal gefunden ist, ist die Arbeit noch lange nicht vorbei. Stichwort: Rechteklärung. „Allein für die vier Takte ‚Isn’t She Lovely‘, die Roger im Musikclub Angie’s anspielt, braucht man schon die Originalrechte aus den Staaten, was nicht nur aufwändig, sondern auch sehr kostspielig ist“, sagt Rinderle. „Teilweise konnte ich mit dem Argument ‚Dokumentarfilm‘ punkten, um zu verdeutlichen, dass keine Gelder da sind und das in irgendeinem vernünftigen Rahmen stattfinden muss. Das ging aber nicht bei allen Sachen. Diese Prince-Aufnahme von ‚How Come U Don’t Call Me Anymore?‘, die Joja Wendt selbst gefilmt und uns zur Verfügung gestellt hat, haben wir nur relativ kurz und durchbrochen gezeigt, um das zitatrechtlich anzuführen. Die Rechte von Prince hätte man für einen Kinofilm nämlich nie erhalten.“
Langer Atem bei der Finanzierung
Noch herausfordernder als die Montage und Rechteklärung gestaltet sich die Finanzierung des Projekts, die einem Drama in mehreren Akten gleicht. „Kaum hatte man die ersten 20 Felsbrocken aus dem Weg geschafft hat, kamen sofort die nächsten 20 hinterher“, umreißt Rinderle. Eine rechtliche Grauzone und „vom Prozedere her absolut nicht in Ordnung“, wie die um diplomatische Antworten bemühte Rinderle erst nach mehreren Nachfragen des Ludwigburger Kino-Publikums einräumt. „Vielen Redaktionen und Institutionen, die sonst eigentlich einen sehr guten Job machen, fehlte vermutlich das Wissen um die beiden Menschen. Sie haben sich offenbar nicht die Mühe gemacht, noch einmal abzuklopfen, warum es diese Geschichte wert ist, erzählt zu werden“, erklärt die Produzentin. „Das war das Frustrierendste auf der ganzen Wegstrecke und etwas, das ich in meiner Laufbahn noch nie so erlebt habe.“
Sie entscheidet sich schließlich dazu, eine Crowdfunding-Kampagne zu starten und weitere Ko-Produzenten und Unterstützer, die sie als Partner auf Augenhöhe beschreibt, ins Boot zu holen. „Das waren alles keine großen Beträge, aber sie haben in der Summe ihrer Teile zum Beispiel wieder eine Förderung ersetzt.“ Als der Film schließlich fertig gedreht und in der Post-Produktion ist, kommt Corona. „Ich musste irgendwann wirklich schmunzeln, weil ich nicht umhin kam zu denken: ‚Dieser Film will’s wirklich wissen!‘“, betont Rinderle lachend.
Dem Publikum gefällt‘s
Dass sich die viele Arbeit gelohnt hat, untermauern die vielen Reaktionen, die im Rahmen der Filmgespräche mit Kay Hoffmann und Goggo Gensch zu vernehmen sind. Das Publikum zeigt sich dabei ebenso bewegt und angetan wie die zusätzlichen Special Guests der Stuttgarter DOK Premiere.
Im Atelier am Bollwerk stoßen zu Katharina Rinderle das hiesige Musik-Urgestein Götz Wendlandt (Mitte), der seit Jahrzehnten im Jazz genauso verhaftet ist wie in der Unterhaltungsmusik, und Thomas Blaser (links), der die Webseite eugen-cicero.de mit viel Liebe zum Detail betreibt. Auch sie sind um Anekdoten nicht verlegen und zeigen: Die Geschichte von Eugen und Roger Cicero schreibt sich so lange weiter, wie das Andenken an diese großartigen Musiker besteht. „Cicero – Zwei Leben, eine Bühne“ leistet dazu einen wertvollen Beitrag.
Die DOK Premiere ist eine vom Haus des Dokumentarfilms kuratierte Filmreihe. Sie präsentiert einmal im Monat in Ludwigsburg und Stuttgart aktuelle Kinostarts von Dokumentarfilmen. Die jeweiligen Filmschaffenden sind für Werkstattgespräche mit dem Publikum vor Ort. Kuratoren sind Goggo Gensch (Stuttgart) und Kay Hoffmann (Ludwigsburg).
„Cicero – Zwei Leben, eine Bühne“ von Kai Wessel, Katharina Rinderle und Tina Freytag (Weltkino Filmverleih) war am 23. März 2022 im Caligari Kino Ludwigsburg und am 24. März 2022 im Atelier am Bollwerk Stuttgart zu sehen.