Berlinale und Dokumentarfilme II
Insgesamt laufen dieses Jahr 135 dokumentarische Produktionen auf der Berlinale, d.h. sie bestreiten rund ein Drittel des Programms. Festivaldirektor Dieter Kosslick sieht Dokumentarfilme als gute Seismographen der Welt und stellt fest, dass sie auf zunehmendes Publikumsinteresse stoßen.
Im vergangenen Jahr hätten in den USA vier Dokumentarfilme jeweils über zehn Millionen Dollar eingespielt. Auch wenn es in Deutschland mit »Weit« von Patrick Allgaier und Gwendolin Weisser und »Papst Franziskus« von Wim Wenders zwei Dokumentarfilme gab, die rund 500.000 Zuschauer hatten, ist die Situation des Dokumentarfilms im deutschen Kino insgesamt eher kritisch zu sehen. Im digitalen Kino haben sie kaum die Chance, ihr Potential zu entwickeln, sondern werden nur punktuell eingesetzt und kaum auf der Abendschiene. Auf Festivals wie der Berlinale sorgen sie allerdings für volle Säle. Kay Hoffmann bespricht Dokumentarfilme, die für den Glashütte-Preis nominiert sind sowie weitere Produktionen aus dem Programm.
Die Liebe zum Kino und zum Film steht im Zentrum des ruhigen, aber sehr beeindruckenden Dokumentarfilms »Talking about Trees« von Suhaib Gasmelbari. Vier würdig gealterte Männer im Sudan – sie erinnern irgendwie an Buena Vista Social Club – haben die Idee, ein in die Jahre gekommenes Open Air Kino neu zu eröffnen. Es soll Revolutions Kino heissen. Sie alle vier sind selbst sudanesische Filmregisseure gewesen, die in den 1970er und 1980er Jahren auf Festivals international erfolgreich waren, dann aber wegen einem Militärputsch nicht mehr weiterarbeiten konnten. Doch sie müssen feststellen, dass sie gegen einige Widerstände kämpfen müssen. Angefangen beim Vermieter, über die staatlichen Genehmigungen der verschiedenen Behörden bis hin zu Stromausfällen. Der Film beginnt sozusagen im Dunkeln bzw. mit Taschenlampen und Handys punktuell beleuchteten Räumen. Inzwischen gibt es sechs Moscheen rund um das Kino, auf die Rücksicht genommen werden muss. Denn regelmäßig rufen die Muezzine über Lautsprecheranlagen die Muslime zum Gebet. Auch die Dreharbeiten ohne offizielle Genehmigung gestalteten sich in dem autoritär geführten Land als äußerst schwierig und zogen sich über Jahre. Stets musste damit gerechnet werden, das das Drehen untersagt werden könnte. Doch hier wurden viele Hindernisse – nicht zuletzt finanzieller Art – überwunden und so ist »Talking about Trees« zugleich eine Reflektion über den Sudan und seine Filmgeschichte. Sollte die Eröffnung des Kinos letztlich eine Vision der Cineasten bleiben?
Eine essayisatische Montage rund um Rosa Luxemburg liefert die libanesische Regisseurin Ghassan Salhab in »Une rose ouvert«. Es ist ein Film, den sie überwiegend in Berlin gedreht hat. Die Bilder in langen Einstellungen, ob nun Landschaftsaufnahmen, Bilder vom Landwehrkanal oder Fahrten mit der U-Bahn unterlegt sie mit poetischen Texten aus unterschiedlichsten Quellen. Zum Teil sind es Briefe von Rosa Luxemburg, aber auch von Literaten. Historische Aufnahmen der Zeit der Arbeiter- und Soldatenräte um 1918 werden kunstvoll verwoben mit anderen Bildern und Fotos. Die verschiedensten Techniken der Kollage mit Auf- und Abblenden oder auch Schärfe und Unschärfe werden kunstvoll eingesetzt und Bild- und Tonebenen übereinander gelegt. Verschiedene Formen werden ausprobiert und jeweils mit Schwarzfilm von einander getrennt. Insbesondere die Vielsprachigkeit auf unterschiedlichsten Tonspuren stören sich jedoch und man muss auf die englischen Untertitel zurückgreifen, um das Gesagte zu verstehen. Auch überfrachtet sie den Film mit immer neuen Themen wie Aufnahmen aus der Kolonialgeschichte oder auch von arabischen Kämpferinnen mit Gewehr oder zum Abschluss einer Musikgruppe. Letztlich aber eine spannende Auseinandersetzung mit Rosa Luxemburg und der Aktualität ihrer Ideen.
»Estou me guardando para quando o carnaval chegar« von Marcelo Gomes zeigt eine Kleinstadt in Brasilien, in der pro Jahr 20 Millionen Jeans produziert und veredelt werden. Wer nicht in den Fabriken arbeitet, bearbeitet den Stoff auf der Strasse oder zu Hause in engen Räumen. Es gilt, die Hosen mit immer neuen Effekten aufzumotzen. Gomes erzählt mit poetischer Sprache und in schönen Bildern, aber dem Film fehlt etwas die Kraft. Dafür entschädigen zum Teils starke Bilder, wenn beispielsweise Unmengen von Jeans auf einem Motorrad oder auf einem Autodach als riesige Haufen transportiert werden.
Pia Hellenthal präsentierte mit »Searching Eva« ihren Debütfilm nach dem erfolgreichen Studium an der KHM in Köln. Für ihre Hochschulfilme erhielt sie einige Auszeichnungen und ihr aktueller Film wurde mit einem Gerd Ruge Stipendium gefördert. Im Zentrum steht mit Eva eine junge Frau, die sich ganz dem digitalen Leben gewidmet hat. Eigentlich Italienerin, lebt sie nun in Berlin. In ihrem Blog inszeniert sie sich immer wieder neu und gibt anderen Lebenstipps. Die moderne Nomadin schlüpft in viele Rollen, ob nun Sexarbeiterin, Model, Feministin oder queere Autorin. Pia Hellenthal und ihr Team haben sie zweieinhalb Jahre begleitet und in verschiedenen Situationen, ob bei der Arbeit, in der Familie, beim Drogenkonsum oder auf Reisen gedreht. Dabei begibt sie sich auf eine Gratwanderung zwischen dokumentarischer Beobachtung und Inszenierung, denn Eva liebt es, ihre verschiedenen Rollen vor der Kamera zu präsentieren. Dies geschieht oft in regelrechten Tableaus, die wie Ruhepausen wirken. Ihre Aktivitäten im Internet werden auf ihre Kommunikation mit ihren Followern reduziert, die als Schrifteinblendungen erzählt werden. Der Schnitt dauerte rund ein halbes Jahr und dort wurden wichtige Entscheidungen für die Gestaltung dieses Porträts gefällt. Das Publikum im Panorama war hingerissen und euphorisch über diesen Film, als ein großer Teil des Teams sowie Eva und ihre Mutter vorgestellt wurden. Meiner Ansicht nach ist es dem Film jedoch nicht gelungen, Eva wirklich nahe zu kommen. Dafür lässt sie sich zu sehr treiben und weiß letztlich nicht, was sie eigentlich vom Leben will. Dies zeigt sich auch in ihren zahlreichen Tätowierungen, die wie Stückwerke spontaner Einfälle erscheinen und ebenfalls kein Gesamtbild ergeben. Vielleicht ist aber auch gerade dies typisch für die Unentschiedenheit in einer digitalen Gesellschaft. Der Dokumentarfilm also wirklich als Seismograph der Welt.
Titelfoto: Szene aus »Talking About Trees« | Foto: Agat Films