Thematische Schwerpunkte der verschiedenen Wettbewerbe beim DOK Festival Leipzig sind persönliche Familiengeschichten, starke Frauen und Aufarbeitung von Geschichte.
Wie extrem es für eine Familie sein, überhaupt nicht mehr miteinander zu sprechen und sich gegenseitig nur Vorwürfe zu machen, zeigte der iranische Wettbewerbsbeitrag „Family Relation“ von Nasser Zamiri. Ein Familienoberhaupt hat sich wegen dem Erbe mit seiner Familie total überworfen, die jetzt auch untereinander zerstritten ist. Eine Lösung ist nicht in Sicht und so dokumentiert der Film in statischen Aufnahmen die gegenseitigen Anschuldigungen. Eine vergleichbare Familienaufstellung unternimmt Susanne Kovács in ihrem dänischen Wettbewerbsbeitrag „It Takes a Family“ und kontrastiert sehr geschickt die heile Welt der Amateurfilme von Urlaubsreisen, Festen und Familientreffen und entsprechende Fotos aus verschiedenen Jahrzehnten mit der dramatischen Familiengeschichte, über die lange Zeit geschwiegen wurde. Die Großeltern überlebten als ungarische Juden den Holocaust und ließen sich in Dänemark nieder. Dort beginnen sie ein neues Leben und haben mit der Vergangenheit abgeschlossen – oberflächlich. Überhaupt nicht begeistert sind sie von der Beziehung ihres Sohnes zu einer Deutschen, die dann auch noch heiraten. Sie verlangen, dass die Familie sich in Dänemark niederlässt. Ein deutsches Enkelkind wollen sie eigentlich nicht, doch schließlich kommt die Tochter zur Welt. Da die eigene Familiengeschichte zu einem großen Geheimnis wird, beschließt sie als Regisseurin einen Film darüber zu machen. Es gehört auf jeden Fall viel Mut dazu, die persönliche Geschichte in dieser Form öffentlich zu machen. Ihrem Vater wäre es lieber gewesen, wenn sie aus dem dramatischen Leben einen Spielfilm gemacht hätte. Für mich ist dieser Film eine der Favoriten für die Taube.
Historische Aufarbeitung
Der Kurzfilm „Waldstück“ von Hannes Schilling geht ebenfalls auf eine Spurensuche der besonderen Art. In einem Wald in Brandenburg gab es ein Lager mit Juden, die aus Theresienstadt herangeschafft wurden, um eine Außenstelle des Reichssicherheitshauptamtes zu bauen. Von dem Lager, an das sich eine Nachbarin noch erinnert, sind nur noch die Fundamente erhalten, die überwachsen sind und vom Denkmalamt freigelegt werden, um sie zu erfassen. Eine Gedenkstätte soll dort nicht entstehen. Diese eher akademische Auseinandersetzung mit zum Teil philosophischen Reflektionen über Täter und Opfer stellt Schilling zwei Sammler gegenüber, die mit Metalldetektoren nach Nazi-Devotionalien suchen und fündig werden. Der Regisseur lässt sie Erinnerungen von Gefangenen vorlesen, doch auch dies irritiert nicht ihr rechtes Weltbild mit verschrobenen Aussagen und Relativierungen deutscher Schuld. Eine spannende, zum Teil experimentelle Auseinandersetzung mit deutscher Geschichte in phantastischen Schwarzweißbildern.
In „Status und Terrain“ kontrastiert Ute Adamczewski Kamerafahrten und Bilder von sächsischen Städten, Landschaften und der Elbe mit historischen Quellen rund um die Machtübernahme der Nationalsozialisten im Frühjahr 1933. Von vielen verdrängt ist die Tatsache, dass schon so früh Kommunisten, Sozialdemokraten, Gewerkschafter und Andersdenkende verhaftet und in ‚Schutzhaft‘- und Konzentrationslager gesteckt wurden. Viele Turnhallen, Versammlungsorte, Jugendherbergen, Burgen wurden kurzerhand dazu umfunktioniert. Die ruhigen Bilder von Stefan Neuberger bieten die Chance, sich ganz auf die Texte zu konzentrieren, die deutlich machen, wie geplant der Rachefeldzug war, potentielle Gegner auszuschalten. Schon die Weigerung, eine Hakenkreuzfahne zu hissen, konnte zu einer Verhaftung führen.
Mit ähnlichen Stilmitteln arbeitet Bernhard Sallmann in „Havelland Fontane“. Zu den wegen der Lichtverhältnisse und Wolkenbildung im Frühjahr von ihm selbst gedrehten statischen Bildern der Havel werden Texte von Theodor Fontane verlesen. Die Orte korrespondieren mit den Textstellen, wobei er vermeidet, die Bilder zu nah am Text zu orientieren. Auf der Tonebene schiebt sich ebenfalls die Gegenwart herein mit Autoverkehr oder Flugzeuggeräuschen. Es ist sein vierter Film mit den Reisebeschreibungen von Fontane, unabhängig und ohne Fernsehgelder produziert nah am Rande der Selbstausbeutung. Ebenfalls im Deutschen Wettbewerb lief mit „Nachspiel“ der Abschlussfilm der Fußballtrilogie von Christoph Hübner und Gabriele Voss. Nachdem die beiden die Talentsuche von Borussia Dortmund ebenso dokumentarisch begleitet hatten wird den Alltag in der Bundesliga, geht es nun darum, was aus den ehemaligen Fußballstars nach der aktiven Zeit wird. Florian Krings bleibt dem Sport erhalten und arbeitet für eine Sportagentur als Talentscout. Heiko Hesse beginnt ein Wirtschaftsstudium und baut sich erfolgreich eine zweite Karriere auf als Finanzexperte und arbeitet inzwischen in Brüssel bei der Europäischen Kommission. Mohammed Abdulai ist am Authentischsten geblieben. Er tourte noch einige Jahre als Fußballer durch die Welt, wurde deutscher Staatsbürger und arbeitet inzwischen als Busfahrer. Seine Hoffnung ist, eine Familie aus Ghana nachholen zu können. Aus hunderten Stunden Material ist es Gabriele Voss geschickt gelungen, die drei Protagonisten über fast 20 Jahren mit den Auf und Abs ihrer Karriere zu begleiten und den Film zu montieren.
Starke Frauen
Eine Chance, sich selbstständig zu machen, hat eine Gruppe von Frauen ergriffen, die sich in Jordanien zu Klempnerinnen ausbilden lässt. Denn männliche Klempner dürfen nicht in Haushalte gehen, in denen Frauen allein sind. „Waterproof“ ist ein starker Film von Daniela König über Freundschaft, Solidarität und Emanzipation von Frauen. Damit helfen sie sich auch über schwierige Situationen hinweg. Ein Film, der Mut macht. Eine vergleichbare Solidarität findet sich auch in „Village of Women“ von Tamara Stepanyan. Die Männer arbeiten fast das ganze Jahr in Moskau im Straßenbau und kommen im Winter nur für ein paar Monate zurück. Doch das Leben in dem Dorf ist eher gekennzeichnet von Tristesse und der Sehnsucht, als Familie zusammen leben zu können.
Zukunft ist online
Die Medienwelt ändert sich radikal weg vom linearen Fernsehen. Die ARD hat festgestellt, dass in ihrer Mediathek Dokumentarfilme sehr beliebt sind – auch bei jüngeren Nutzerinnen und Nutzern. Vielleicht ist dies auch eine Reaktion auf ungünstige Sendeplätze. Die AG DOK bot Thomas Riedelsheimer die Chance, sein Projekt www.musenraum.de vorzustellen. Dabei können sich junge Dokumentarfilmemacherinnen und -macher um eine Fortbildung und Betreuung ihrer ersten Projekte nach dem Studium bewerben. Im Mittelpunkt standen allerdings Versuche, Dokumentarfilme selbst zu vermarkten. Lars Henrik Gass präsentierte erste Überlegungen, wie Kommunale Kinos ihre Filme im Internet anbieten können. Susanne Dzeik stellte docfilm42.de vor, ein Kollektiv Berliner Filmemacher. Online bisher am erfolgreichsten ist RealEyz.de, wie Andreas Wildfang deutlich machte. Einen Reset der bisherigen Online AG plant Wolfgang Knauff mit Onlinefilm.org und Luise Jansen sprach über Kino online. In Frankreich ganz erfolgreich ist tenk.fr, das aus einem Festival hervorging und von Jérémie Jorrand vorgestellt wurde. Barbora Langmajerova erläuterte die tschechische Plattform DAFilms.com.
Ein ganz anderes Gewicht hat die Plattform progress.film. Gunnar Dedio von der Leipziger Looksfilm. Er hat die online-Verwertungsrechte aller Filme erworben, die der Progress Verleih in der DDR ins Kino gebracht hat. Es sind insgesamt 17.000 Filme, von denen die ersten 3.500 online sind. Mit Logo und Timecode im Bild können sie nach einer Anmeldung kostenlos gesichtet werden. Dies ist ein ideales Recherchetool für die Filmwissenschaft und Produktionsfirmen, die nach historischen Aufnahmen suchen. Sie können sich sehr einfach Clips in hoher Auflösung bestellen. Dies soll die Plattform refinanzieren. Die Anfänge sind vielversprechend. Eine automatisierte Spracherkennung dokumentiert die Texte der Kommentare, die als hervorragender Verweis dienen, was in den Bildern zu sehen ist. Dieser Bestand ermöglicht Filme zu produzieren, die aus der Perspektive Ostdeutschlands erzählt werden. Selbst wenn es sich um die staatliche Filmproduktion und eine offizielle Perspektive handelt, lassen sich doch viele Bilder des DDR-Alltags finden. Durch das gemeinsame Panel bei DOK Industry entstand die Idee, ob man die dokumentarischen Progress-Filme nicht mit der großen Datenbank des DFG-Projektes zur Dokgeschichte verknüpfen kann. Dann wäre es sogar möglich, die DEFA-Filme direkt zu sichten.