Die 61. Nordischen Filmtage Lübeck bewiesen einmal mehr, das zentrale Festival für skandinavische Filme und Produktionen aus dem Baltikum und Norddeutschland zu sein.
Bei der feierlichen Abschluss im Theater Lübeck wurden Preise im Gesamtwert von 52.500 € vergeben. Den mit 12.500 € höchst dotierten NDR Filmpreis gewann der isländische Spielfilm »Weißer, weißer Tag« von Hlynur Pálmason. Mit dem Preis für das Beste Spielfilmdebüt (7.500 €) ausgezeichnet wurde Regisseurin Miia Tervo aus Finnland für »Aurora«. Den Publikumspreis der Lübecker Nachrichten (5.000 €) konnte sich der finnische Altmeister Mika Kaurismäki sichern für »Meister Cheng«. »Der diesjährige Wettbewerb war gespickt mit Favoriten, was das Rennen um die Preise bis zuletzt hochspannend gemacht hat«, stellte die künstlerische Leiterin Linde Fröhlich fest. Den mit 5.000 € dotierten Dokumentarfilmpreis des DGB Bezirk Nord gewann »Die Kraft des Joik« von Paul-Anders Simma. Der Finne fügt Privates und Politisches, Historisches und Aktuelles zu einer beeindruckenden Bestandsaufnahme samischer Lebensweise. Der Gesang der Sami – Joik genannt – kann vielerlei Kräfte freisetzen.{imageshow sl=162 sc=1 /}
Insgesamt wurden an den sechs Tagen knapp 200 Filme gezeigt. Es kommen viele Fachbesucher in die norddeutsche Hansestadt und auch das Publikum liebt die Filme. Die Vorführungen sind in der Regel ausverkauft – egal ob Spiel-, Kurz- oder Dokumentarfilme oder Serien. Außerdem bietet das Festival ein umfangreiches Rahmenprogramm. Fest etabliert ist inzwischen das Fulldome-Kino mit aufblasbarer 360 Grad Kuppel, in die spektakuläre Naturfilme projiziert werden. Die Retrospektive zeigte Filme zur Spionage im Kalten Krieg, die zum Teil als Stummfilmkonzert präsentiert wurden. In dem aktuellen litauischen Dokumentarfilm »Die Tochter des Spions« von Jaak Kilmi steht eine Familie im Zentrum, die sich im Kalten Krieg in eine Agentengeschichte mit Überläufern zwischen der Sowjetunion und den USA verstrickt. Neben privaten Filmen wurde das Stilmittel des Re-Enactment eingesetzt, es dem Zuschauer jedoch klar offenbart.
Linde Fröhlich und Florian Vollmers |Leitung Festival »Nordische Filmtage Lübeck«|
Skandinavischer Spionagefilm war einer der Schwerpunkte des Lübeck Film Studies Colloquium, bei dem sich skandinavische und deutsche Filmhistoriker treffen und das von Anders Marklund (Universität Lund) organisiert wird. Ein weiterer Schwerpunkt lag auf Digitalisierungsprojekten. Prof. Thomas Weber von der Universität Hamburg stellte die umfangreiche Datenbank des DFG-Forschungsprojektes zur Geschichte des dokumentarischen Films in Deutschland 1945-2005 vor (dokumentarfilmgeschichte.de), die sehr erfolgreich ist und im ersten Jahr 850.000 Detailabfragen hatte. An der Uni Hamburg wurde außerdem ein Online-Kurs zum Dokumentarfilm entwickelt (https://dokumentarfilm-kurs.avinus.de), bei dem verschiedene Aspekte des Genres in Beiträgen erörtert werden. Lars Martin Sörensen vom Danish Film Institute (DFI) stellte ein Projekt vor, bei dem alle vorhandenen Stummfilme des Archivs online gestellt werden (stumfilm.dk); man kann diese Plattform auch in Englisch recherchieren. Im Archiv überliefert sind etwa 20% dieser frühen Filme; ermöglicht wurde dies Projekt durch die Unterstützung von drei privaten Stiftungen. Ebenfalls am DFI wird ein Forschungsprojekt durchgeführt zu dänisch-deutschen Filmbeziehungen zwischen 1910 und 1930. Daran arbeitet ein Team von 17 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern für drei Jahre.
Mensch und Natur
Schon damals war das Verhältnis des Menschen zur Natur ein wichtiges Thema. Dies gilt bis heute und ist sicher ein Grund für die Attraktivität dieser Filme. Ein wichtiger Naturfilmer aus Finnland ist Marko Röhr, der mit seiner »Natursinfonie« das Lübecker Publikum begeisterte. Es ist sozusagen ein Best of seiner bisherigen Aufnahmen, die mit symphonischer Musik unterlegt wurden. In einer Meisterklasse erläuterte er seinen Werdegang, seine Liebe zum Tauchen und Unterwasseraufnahmen und den technischen Aufwand, um spektakuläre Tieraufnahmen zu bekommen. Ebenfalls auf jeglichen Kommentar verzichtet Victor Kossakosky in »Aquarela«, wählt allerdings eher sphärische und rockige Musik zu seinen faszinierenden Bildern von Eis und Wasser. Kameramann Ben Bernhard erläuterte die Herausforderungen bei den Aufnahmen, bei denen das kleine Team sehr vom Wetter abhängig war. Zu sehen war auch »Auf Wiedersehen, Eisbär« des norwegischen Naturfilmers Asgeir Helgestadt, der eine Eisbärenfamilie über vier Jahre begleitet hat.
Familien und Konflikte
Eine ganz neue Perspektive auf einen Brüsseler Vorort, der wegen islamistischen Anschlägen in Verruf geraten ist, zeigt »Die Götter von Molenbeek« von Reeta Huhtanen aus Finnland. Im Mittelpunkt steht der sechsjährige Aatos, der Neffe der Regisseurin. Sie folgt ihm bei seinen Streifzügen durchs Viertel mit seinem arabischen Freund Amine. Sie gehen auf Entdeckungsreise und philosophieren dabei über Gott und die Welt sowie sehr phantasiereich über den Tod. Da die Regisseurin kein Französisch spricht, erkannte sie die Originalität der altklugen Dialoge erst im Schnitt. Jan Grarup ist ein bekannter dänischer Kriegsfotograf, der mit seinen Bildern sogar Opernhäuser füllt. Als seine Ex-Frau schwer erkrankt, versorgt er seine drei jugendlichen Kinder. In »Der Kriegsfotograf« porträtiert Boris B. Bertram ihn bei dieser Herausforderung, die Einsätze in Krisengebieten mit seinen Familienpflichten zu koordinieren. Denn selbst wenn er vorsichtig agiert, kann er doch unter Beschuss geraten und die Kamera des Filmteams ist dabei nah an ihm dran. Durch die neue Situation gewinnt das Porträt an Tiefe, denn es zeigt auch dramatische Momente in der Familie wie die Beerdigung seiner Ex-Frau.
Die Finnen gelten als das glücklichste Volk auf Erden – zumindest gilt dies für die Frauen. Männer haben viel eher Burnout, Gesundheits- und Alkoholprobleme. Sie verzweifeln am Alltag und finden dadurch schwieriger eine Partnerin. In »Der glücklichste Mann der Welt« startet Joonas Berghäll eine verstörende Selbstanalyse und schafft es, fünf seiner Leidgenossen zum Sprechen zu bringen über Trennungen, Verluste, Ängste und Versagen. Seine persönliche medizinische Prognose ist nicht vielversprechend, wenn er sein Leben nicht ändert. Lübeck bot neben vielen Spielfilmen auch ein breites Spektrum an skandinavischen Dokumentarfilmen in ihrer ganzen Themenbreite und stilistischen Vielfalt.
{imageshow sl=163 sc=1 /}