Interview mit Christoph Terhechte, DOK Leipzig Festivalleiter

Vom 17. bis 23.10.2022 findet die 65. Ausgabe von DOK Leipzig statt. Seit 2020 leitet Christoph Terhechte das traditionsreiche Festival. Kay Hoffmann vom Haus des Dokumentarfilms sprach mit ihm über aktuelle Herausforderungen und mögliche Perspektiven.

Filmfestival als Schule des Sehens

Leipzig sorgte zu DDR-Zeiten für einen deutsch-deutschen Austausch und verstand sich als Fenster zur Welt. Nach der Wiedervereinigung zeigte es viele osteuropäische Produktionen und baute so eine Brücke zur Verständigung. DOK Leipzig war zudem immer auch ein sehr politisches Festival.

Vor seinem Amtseintritt in Leipzig leitete Christoph Terhechte von 2001 bis 2018 das Berlinale Forum und anschließend das Filmfestival in Marrakesch.

Kay Hoffmann: Haben Sie neue Ansätze nach Leipzig gebracht?

Christoph Terhechte: Eine Neueinführung von mir ist die Reihe „Camera Lucida“ mit sieben außergewöhnlichen Werken namhafter Dokumentarfilmer:innen, die neue Formen ausprobieren. Mir ist jedoch wichtig, dass DOK Leipzig die gesamte Bandbreite an Dokumentarfilmen abdeckt. Wir zeigen vom attraktiven Publikumsfilm bis zum Experiment alles – sowohl für das Gelegenheitspublikum als auch für die Zuschauer:innen, die höhere Ansprüche stellen. Sie sollten sich hier alle gefordert und bereichert fühlen. Hinsichtlich Osteuropas gibt es das neue Programm „Panorama“, wo wir fünf lange und fünf kurze Filme zeigen – zusätzlich zu den Produktionen in anderen Wettbewerben. Damit wollen wir die Verortung des Festivals in Mittel- und Osteuropa betonen. Außerdem haben wir dieses Jahr ein Animationsfilmprogramm aus Slowenien und zeigen Filme des ukrainischen Festivals DocuDays UA, das im März 2022 wegen des russischen Angriffs nur virtuell stattfinden konnte.

Wird es in Leipzig überhaupt Filme aus Russland geben?

Terhechte: Es werden ausschließlich Filme sein, die keine staatliche Unterstützung hatten und sich klar positionieren gegen das dortige Regime. Ein Beispiel ist der kurze Animationsfilm „Lada, Ivan‘s Sister“, der die Geschichte einer Transsexuellen erzählt. Wir wollen die Menschen nicht ausgrenzen, die in Russland zu den Verfolgten gehören. Ein anderer Kurzfilm setzt sich explizit mit der Frage auseinander, wie man in dem heutigen System Russland Widerstand leisten bzw. Widerstand künstlerisch manifestieren kann.

Sie haben im schwierigen Corona-Jahr 2020 angefangen, als das Festival hybrid stattfinden musste. Gab es positive Erfahrungen, die Sie aus dieser Zeit übernommen haben?

Terhechte: Viele Festivals haben die Erfahrung gemacht, dass man nicht zu einer kompletten Präsenzveranstaltung zurückkehren kann. In der Branche fragt man sich: Lohnt es sich für einen kurzen Besuch ins Flugzeug oder in die Bahn zu steigen? Wir wollen niemand zwingen, energieaufwändig zu reisen. Die andere Lehre ist, dass auch das Publikum Online-Elemente nachfragt. Aber unser Schwerpunkt liegt im Kino!

NODOGS FilmstillDOK Leipzig ist ein Festival für Dokumentar- und Animationsfilm. In diesem Jahr ist der Eröffnungsfilm „No Dogs or Italians Allowed“ ein Animationsfilm mit einem politischen Thema. Haben Sie den Eindruck, dass diese beiden Genres immer enger zusammenrücken?

Terhechte: Der Eröffnungsfilm ist ganz stark in der Realität verankert. Es ist die wahre Familiengeschichte des Regisseurs. Im Animationsfilm gibt es ein großes Segment mit Erzählungen aus der Wirklichkeit und im Dokumentarfilm gibt es oft das Problem, dass für bestimmte Aspekte die Bilder fehlen. Deshalb entdecken Dokumentarfilmemacher:innen die Animation als Gestaltungsmittel, um diese Lücken zu füllen. Die beiden Gattungen ergänzen sich hervorragend! Dies wollen wir besonders nach vorne bringen, indem wir in der zweiten Festivalhälfte einen Animationsschwerpunkt haben werden. Wir haben schon länger vor, einen Wettbewerb mit langen Animationsfilmen ins Leben zu rufen. Das war pandemiebedingt bisher nicht möglich.

Dokumentarfilme verwenden immer öfter historisches Archivmaterial. Dieses Jahr gibt es dazu den neuen DOK Archive Market, einen Archiv-Tag. Ist dies eine Tendenz, die Sie damit unterstützen wollen?
 
The Labudovic Reels

Terhechte: Wir haben uns das nicht ausgedacht – die Filmschaffenden nutzen immer öfter Archivmaterial. Es gibt viele Filme in dem Bereich, die sehr spannend sind und damit künstlerisch arbeiten. Wir zeigen eine Hommage an die jugoslawische Filmemacherin Mila Turajlić, die sich mit ihrer Familiengeschichte und dem Zerfall von Jugoslawien beschäftigt, zum Beispiel in ihrem Film „Cinema Komunisto“ (2010) oder ihrem neuen Film „Ciné-Guerillas: Scenes from the Labudovic Reels“, der im Internationalen Wettbewerb läuft. Es geht darin um den Kameramann von Tito, den dieser 1958 nach Algerien schickt, um den dortigen Unabhängigkeitskampf gegen Frankreich zu dokumentieren. Ein anderes Beispiel für die Verwendung von Archivmaterial ist „Tropic Fever“ im Wettbewerb. Zum ersten Mal beschäftigen sich hier junge indonesische Filmemacher:innen mit dem historischen Filmmaterial aus der niederländischen Kolonialzeit. Es gibt eine neue Generation an Filmeschaffende aus den ehemaligen Kolonien, die ihren Weg finden, sich mit solchen Aufnahmen auseinanderzusetzen und sie umzudefinieren.

Die diesjährige Retrospektive würdigt Dokumentarfilmerinnen aus der DDR. Gab es einen besonderen Anlass für dieses Thema?

Filmstill HEIM Terhechte: Das Thema Filme von Frauen ist wichtig, da sie in der Wahrnehmung bisher eine zu geringe Rolle spielen. Es hat schon einige Retrospektiven gegeben zum Film in der DDR, aber bisher noch keine, die sich explizit mit dem weiblichen Dokumentarfilmschaffen beschäftigte. Überraschenderweise findet man relativ wenig Langfilme von ihnen. Frauen haben auch in der DDR, die sich die Gleichberechtigung auf die Fahnen geschrieben hatte, deutlich weniger Möglichkeiten dafür gehabt. Wir schauen darauf, was Frauen im Dokumentarfilm der DDR für eine Perspektive zum Ausdruck bringen konnten. Wir ergänzen die Retrospektive aus sechs Programmen mit einer DEFA-Matinee zur Regisseurin Angelika Andrees und einem Programm aus dem Sächsischen Staatsarchiv mit Amateur- und Auftragsfilmen.

Welche Perspektiven sehen Sie für DOK Leipzig in den kommenden Jahren?

Terhechte: Zunächst einmal muss ich Optimist bleiben, wenn die Zeichen momentan auch nicht günstig stehen. Ich habe gehört, dass das Amsterdamer Dokumentarfilmfestival IDFA auf einer Liste der kulturellen Notwendigkeiten des Landes steht und sein Budget stark erhöht werden wird. Das wünsche ich mir auch für Deutschland. Der Freistaat Sachsen und die Stadt Leipzig stehen weiterhin zu uns. Aber zaubern können sie nicht, wenn die Inflation weiter steigt. Dann müssen wir viel Fantasie anwenden, um aus der Situation das Beste zu machen. DOK Leipzig wird es definitiv weitergeben. Die einzigartige Kombination von Dokumentar- und Animationsfilm, die dieses Festival international verkörpert, will ich noch stärker herausstellen. Ich möchte vor allem, dass wir dialogische Formate hier in Leipzig nutzen, um zwischen Publikum und Filmschaffenden sehr viel mehr Austausch über die Realität, das Wesen und die Möglichkeiten von Dokumentar- und Animationsfilm zu schaffen. Dies wird immer wichtiger in Zeiten von Künstlicher Intelligenz und von großer Verunsicherung dahingehend, was faktisch ist und was künstlerisch. Ich verstehe das Festival als eine Schule des Sehens, in der man dem Gezeigten auch misstrauen muss. Wir zeigen Filme mit sehr unterschiedlichen Macharten. Da stellt sich Frage: Wie gehen wir und die Künstler:innen mit den Bildern um? Werden sie nicht eingesetzt, um uns zu manipulieren? Die ethischen Fragen des Dokumentarfilms muss man präsent machen: Was kann ich? Was darf ich? Was muss ich? Was tue ich? So sind wir gewappnet gegen die totale Manipulation durch die sozialen Medien und eine rapid zunehmende Beeinflussung. Da erfüllt DOK Leipzig eine essenziell wichtige Funktion.