Vor-Premiere von „Ask Dr. Ruth“: Es kommt nicht auf die Größe an!
Vor-Premiere von „Ask Dr. Ruth“ in der Merz-Akademie
Ruth Westheimer – kurz Dr. Ruth – ist trotz ihrer 90 Jahre noch ein richtiger Wirbelwind. Sie steckt an mit ihrem Witz und ihrer Energie. Trotz ihrer geringen Körpergröße von 1,40 m hat sie in den USA Großes geleistet.
Als Sexual-Therapeutin hatte sie in den 1970er Jahren zunächst eine Radiosendung in New York, ab 1984 ihre eigene TV-Show. Sie war die Erste, die im prüden Amerika das Thema Sex und Beziehungen öffentlich diskutierte, Menschen beriet, die in ihre Sendungen live anriefen. Sie scheute sich nicht, Dinge beim Namen zu nennen. Gerade in den 1980er Jahren war AIDS ein großes Thema. Von Erzkonservativen wurde die Krankheit als Strafe Gottes verteufelt für die sexuelle Befreiung. Dagegen setzte Westheimer auf sachliche Aufklärung und die Empfehlung, Kondome zu benutzen – gerade bei wechselnden Sexualpartnern. Sie machte sich stark, dass Frauen ihre Befriedigung einfordern sollten und machte in ihren TV-Beratungen die Bedeutung einer gleichberechtigten Partnerschaft deutlich. Damit wurde sie zu einer regelrechten Pop-Ikone in den Staaten, hielt Vorlesungen und publizierte zahlreiche Bücher. Aus der Politik hielt sie sich raus. Doch war sie politisch sehr einflussreich sowohl für die Gleichberechtigung der Frauen als auch der Homosexuellen.
Ihren Erfolg hat sie sich hart erarbeitet. Trotz ihrer dramatischen Lebensgeschichte hat sie nie ihren Optimismus verloren. Sie wurde 1928 in einer jüdischen Familie in Frankfurt geboren. Als Jugendliche spürte sie die Bedrohung im Nationalsozialismus, die sie in ihrem Tagebuch festhielt. Als Zehnjährige schickten ihre Eltern sie schweren Herzens mit Kindertransporten in ein Waisenhaus in die Schweiz. Als die wöchentlichen Briefe der Eltern ausblieben, ahnte sie Schreckliches. 1945 siedelte sie nach Palästina um, wo sie zur Scharfschützin ausgebildet und bei einer Explosion schwer verletzt wurde. Mit ihrem Mann ging sie 1951 nach Paris, machte das Abitur nach und studierte Psychologie an der Sorbonne. Eine Entschädigungszahlung von 5.000 DM ermöglichte ihnen fünf Jahre später die Auswanderung nach Amerika. Sie trennte sich von ihrem Mann und schlug sich als alleinerziehende Mutter durch. Schließlich lernte sie bei einem Ski-Ausflug Herrn Westheimer kennen, der zu ihrer großen Liebe wurde und mit dem sie eine Familie gründete. Dieser Neuanfang war ihr sehr wichtig. Sie begann als Familienberaterin in Harlem und dann startete ihre Radiosendung, die sofort einschlug beim Publikum. In der Biografie von Ruth Westheimer spiegelt sich ein Stück weit das Schicksal vieler Juden aus Deutschland.
Das Haus des Dokumentarfilms beteiligte sich von Anfang an mit Filmvorführungen an den Jüdischen Kulturwochen Stuttgart, wie die neue Geschäftsführerin Ulrike Becker in ihrer Begrüßung hervorhob. Astrid Beyer, die Kuratorin des Filmprogramms, hatte beim Sundance Festival den amerikanischen Dokumentarfilm „Ask Dr. Ruth“ von Ryan White entdeckt, der erst 2020 in die deutschen Kinos kommt. Es bedurfte entsprechend viel Überzeugungsarbeit, den Verleih NFP für diese Vor-Premiere zu begeistern. Deshalb wurde die Blue Ray kurzfristig mit Kurier gebracht, traf erst am Nachmittag ein und konnte nur stichprobenartig getestet werden. Dies erwies sich als fatal, denn die Scheibe blieb nach der ersten Hälfte des Films immer wieder hängen und auch ein Austausch des Players behob nicht die Misslichkeiten. Das Publikum nahm es gelassen, nutzte die Chance, über den Film zu diskutieren, von dem sie so begeistert waren. Denn der Film stieß auf großes Interesse vor fast ausverkaufter Aula.
Der Dokumentarfilm „Ask Dr. Ruth“ von Ryan White erzählt ihre Erfolgsgeschichte zum Glück nicht chronologisch. Die verschiedenen Zeitebenen ihrer Kindheit, ihrer drei Ehen, ihres medialen Erfolgs und aktuelle Aufnahmen werden geschickt verschachtelt. Im Skype-Interview mit Astrid Beyer, das nach der Vorführung gezeigt wurde, verriet Regisseur Ryan White Details der Produktion. So war zu Beginn nicht geplant, mit Animation zu arbeiten. Als er aber die Tagebücher und den Briefwechsel mit den Eltern fand, bot es sich an, die beschriebenen Erlebnisse als Animation zu visualisieren. Oft dienten dazu Fotos als Vorlage, die in farblich weichen Bildern umgesetzt wurden. Ryan White begleitete Ruth Westheimer mit der Kamera an wichtige Orte ihres Lebens. Sehr berührend ist ihr Besuch in Israel, wo sie in der Holocaust Gedenkstätte Yad Vashem zum ersten Mal das Schicksal ihrer Eltern recherchiert. Nach Aktenlage starb ihr Vater 1942 in Auschwitz, ihre Mutter gilt als „verschollen“ – was Ruth Westheimer ein schreckliches Wort findet für Ermordung. White hat über die Jahre fast 400 Stunden Material gedreht, hinzu kommen tausende an Stunden von ihren TV-Auftritten, die die legendäre Sexualtherapeutin selbst aufgezeichnet und archiviert hat. Von daher eine Meisterleistung, daraus einen dramaturgisch so packenden Film zu gestalten.