Cinefest 2022: Einfluss von Kameratechnik auf Filmgestaltung
Vom 11. bis 20.11.22 fand in Hamburg das 19. Internationale Festival des deutschen Film-Erbes statt. Neben Filmvorführungen vertiefte der 35. Internationale Filmhistorische Kongress das Thema mit Vorträgen von Filmhistoriker:innen und Kameraleuten.
Das Cinefest wird von Cinegraph Hamburg mit zahlreichen Partner:innen wie dem Bundesarchiv organisiert. Es ist in Deutschland die wichtigste Veranstaltung zur Filmgeschichte und zum filmischen Erbe. Das Motto in diesem Jahr: „Gekurbelt, Entfesselt, Bunt, Digital. Kameratechnik und Filmkunst in der deutschen Kinematographie“. Die Filmvorführungen von über dreißig historischen Filmen (entstanden zwischen 1913 und 1991) sowie der Kongress fanden im Kommunalen Metropolis Kino statt. Der Schwerpunkt lag beim Spielfilm, dennoch gab es einige dokumentarische Programme.
Kamera- und Tontechnik verändert Filme
Im Kulturfilm „Aus dem Wunderreich der Technik: Der Tonfilm“ (1933) erläuterte Wolfgang Loë-Bagier didaktisch die neue Technik, die filmästhetisch so viel veränderte. Früh gab es Versuche mit farbigem Film, wie der ehemalige Leiter des Bundesarchiv-Filmarchivs Karl Griep in einem Programm ausführte. Gestalterisch sehr aufwändig ist der Kulturfilm „Michelangelo. Das Leben eines Titanen“ (1937) von Curt Oertel. Der Kommentar erscheint pathetisch, aber der Kulturfilm ist ein gutes Beispiel für die frühe Mischung aus dokumentarischem und inszeniertem Material.
Mit den Kameramännern im Zweiten Weltkrieg beschäftigten sich Niels Bolbrinker und Thomas Thielsch in „Schuss Gegenschuss. Kamera-Soldaten im Zweiten Weltkrieg“ (1990). Die Arri-Handkamera ermöglichte dynamische Bilder von allen Kriegsgebieten, die durch „Die Deutsche Wochenschau“ ins Kino gebracht wurden. Die Veränderungen der Filmästhetik durch mobile 16mm-Kamera mit Synchronton untersuchte Gisela Tuchtenhagen in „5 Bemerkungen zum Dokumentarfilm“ (1974). Wie innovativ Imagefilm sein konnte, bewies „Nur der Nebel ist grau. Impressionen aus dem neuen Werk der August Thyssen-Hütte“ (1965) von Robert Ménégoz. Er diente dazu, das neue Werk visuell spannend zu präsentieren. Hintergrund der ästhetischen Umsetzung war die Anwerbung von Arbeitskräften mit dem Argument, dass es sich im Stahlwerk nicht mehr um körperliche Schwerstarbeit handeln müsse.
Kameraleute sind für Bild- und Lichtgestaltung zuständig
Beim 35. Cinefest Kongress gab Michael Neubauer, Geschäftsführer vom Bundesverband Kinematographie (BVK), einen umfassenden Überblick zur Entwicklung der Kameratechnik ab Ende des 19. und im 20. Jahrhundert. Kameraleute waren zunächst Techniker und Tüftler, die ihre Kameras selbst verbesserten. Dadurch wurde die Entfesselung der Kameraarbeit in den 1920er Jahren von der schweren Kamera auf Stativ möglich. Dann die Erstarrung mit der Einführung des Tonfilms und geblimpten Kameragehäusen. „Der Film verlor die Leichtigkeit des Bildes“, so Neubauer. Es folgt die neuerliche Mobilisierung mit der 35mm-Handkamera von Arri Mitte der 1930er Jahre. Die Studiokameras des Fernsehens waren wieder sehr statisch und die Kameraleute verloren ihre Selbstständigkeit in der Bildgestaltung. Ab den 1950er Jahren findet ein Umbruch mit 16mm Kamera mit Synchronton statt, die Videotechnik und schließlich die Digitalisierung ab den 1990er Jahren. Es wurde klar, dass die benutzte Technik einen erheblichen Einfluss auf die Gestaltung der Bilder durch Licht hat. Dies ist die eigentliche Aufgabe der Kameramänner und -frauen.
Immer neue Formate und notwendige Kadragen
Auf die Veränderungen des Berufs ging der Kameramann Axel Block ein, der u. a. Bilder für Filme von Harun Farocki, Ula Stöckl, Hartmut Bitomsky oder Margarethe von Trotta gestaltete. Für sein Buch über „Die Kameraaugen des Fritz Lang“ war er 2021 mit dem Willy-Haas-Preis ausgezeichnet worden. Ein Schwerpunkt in seinem Vortrag waren die verschiedenen Seitenverhältnisse in den 1960er und 1970er Jahren, die sowohl für das Kino als auch das Fernsehen funktionieren sollten und die bisherigen Standards obsolet machten. „Es entwickelte sich eine gewisse Beliebigkeit der Kadrage“, wie Block ausführte.
Der Kameramann Peter Badel erläutere die Arbeit mit dem Breitwandformat Totalvision in der DDR als Reaktion auf entsprechende neue Formate im Westen. Das Breitwandbild bedeutete für die Kameraleute wieder eine schwerfällige Kamera, bei der sie nur mit einem 40mm und einem 135mm Objektiv arbeiten konnten. Der erste Spielfilm in Totalvision war Konrad Wolfs „Der geteilte Himmel“ (1964), bei dem Wolfgang Bergmann die Bildgestaltung übernahm. Florian Krautkrämer ging auf die Veränderung durch digitale Kameras und begleitende Technik wie Steadycam-System, Farbkorrektur und Bildstabilisierung ein.
Die große Kunst der schwarz-weißen Bildgestaltung
In einem weiteren Schwerpunkt ging es um deutschen Expressionismus in den 1920er Jahren und den Film Noir der verschiedenen Jahrzehnte. Für Thomas Brandlmeier definiert sich der Expressionismus als starker Antinaturalismus; er arbeitet mit viel Licht, Schatten und extremen Bauten. Ursula von Keitz verglich die Schwarzweißästhetik in West und Ost um 1960 sowie die zunehmende Zusammenarbeit mit dem Fernsehen. Ein Beispiel ist der Film „Mörderspiel“ (1961) von Helmuth Ashley, bei der der Mörder eine subjektive Kamera bekommt und das Geschehen aus seinem Blick zeigt. Mit einer solchen subjektiven Kamera hatte Michael Powell ein Jahr zuvor im Spielfilm „Peeping Tom“ gearbeitet, in dem Karlheinz Böhm in der Rolle des Killers Mark Lewis Frauenmorde mit seiner Amateurkamera dokumentiert. Dem Film „Mörderspiel“ stellte von Keitz der DEFA-Produktion „Der geteilte Himmel“ gegenüber. Die starke Polarisierung von Gut und Böse in den DEFA-Grenzkrimis arbeitete Evelyn Hampicke heraus. Eine ideologische Botschaft dieser Filme war es zu zeigen, „im Osten wird die Situation immer besser, während der Westen schon lange nicht mehr leuchtet“, so Hampicke.
Evelyn Hampicke, Ursula von Keitz, Thomas Brandlmeier und Moderatorin Heike Klapdor.
Filmstills aus der DEFA-Produktion „Razzia“ (1947) v. Werner Klingler
Frühe Vermischung von Dokumentarfilm und Inszenierung
Auf die widersprüchliche Produktionsgeschichte des schon erwähnten „Michelangelo“-Films von Curt Oertel ging Chris Wahl ein. Nach einem kurzen Kulturfilm (1938) über diesen Künstler montierte Oertel einen abendfüllenden Dokumentarfilm (1940) mit stark inszenierten Passagen und einem pathetischen Kommentar. In den USA wurde der Film von niemand geringeren als Robert Flaherty um ein Drittel gekürzt und mit neuem, sachlicherem Kommentar versehen. Diese Fassung gewann 1951 einen Oscar in der Kategorie Bester Dokumentarfilm, der nicht an Curt Oertel, sondern an den amerikanischen Produzenten Robert Snyder übergeben wurde.
Willy-Haas-Preis für Peter Zimmermanns Dokumentarfilmgeschichte
Im Rahmen des Cinfestes wird jedes Jahr zudem der Willy-Haas-Preis für bedeutende internationale Publikationen zum deutschsprachigen Film in den Bereichen Buch- und DVD-/Blu-ray-Edition vergeben. Eine international besetzte Jury (Christiane Habich, Britta Hartmann, Anne Jespersen, Uli Jung, Günter Krenn) nominierte jeweils sechs Publikationen.
Als bestes Buch wurde Peter Zimmermanns „Dokumentarfilm in Deutschland“ ausgezeichnet. Es ist die erste umfassende Dokgeschichte von den Anfängen bis heute, die von der Bundeszentrale für politische Bildung herausgegeben wurde. Peter Zimmermann war langjähriger Studienleiter Wissenschaft im Haus des Dokumentarfilms und hat seine Erfahrungen aus dieser Zeit ebenso einfließen lassen wie seine Forschungen zur Dokumentar- und Fernsehgeschichte. Die Jury begründete ihre Entscheidung wie folgt: „Kenntnisreich, profunde in den Schlussfolgerungen und in konziser Darlegung führt der Autor durch die Entwicklung der Gattung von ihren Anfängen im Kaiserreich über die Weimarer Republik mit der Etablierung des Kulturfilms, das Dritte Reich und der propagandistischen Indienstnahme, die beiden deutschen Staaten, denen der Dokumentarfilm zur gegenseitigen Denunziation dient, aber auch als gesellschaftskritisches Medium profiliert wird, bis in die Gegenwart und den neuen hybriden digitalen Formaten.“
Im Bereich DVD gewann „Anders als die Anderen & Gesetze der Liebe & Geschlecht in Fesseln“ der Edition Filmmuseum. Die Jury lobte, dass diese drei Filme über Homosexualität und Prostitution aus den 1920er Jahren nun für den privaten Gebrauch zugänglich seien. Sie entstanden mit Unterstützung des Pioniers der Sexualforschung Magnus Hirschfeld. Ein 20-seitiges Booklet liefert eine filmgeschichtliche Einordnung und zusätzliche Original-Dokumente. „Eine umsichtig gestaltete und vorbildliche Edition“, so die Jury.