Vom 7.-11.12.22 präsentiert die Filmschau Baden-Württemberg über 100 aktuelle Produktionen mit Bezug zum Südwesten. Gezeigt werden neben Spiel-, Animations- und Kurzfilmen auch etliche Dokumentarfilme, darunter „Kash Kash“, „Pornfluencer“ und „Auf der Spur des Geldes“.
Das breite filmische Spektrum, das auf die eine oder andere Art an „The Länd“ andokt, ist einmal mehr konzentriert an fünf Tagen in den Stuttgarter Innenstadtkinos zu erleben. Filmschaffende, Produzent:innen und Förderer aus Baden-Württemberg präsentieren hier vom 7. bis 11. Dezember 2022 ihre aktuellen Werke. Die Redaktion vom Haus des Dokumentarfilms stellt ausgewählte Dokfilme im Programm vor. Alle Spielzeiten und Produktionen sind auf der Seite www.filmschaubw.de zu finden.
BW – Ausbildungsstandort Film
In der Kategorie Dokumentarfilm punktet Baden-Württemberg deutlich sichtbar als Ausbildungsstandort. Einrichtungen wie die Hochschule für Film und Medien Stuttgart sowie, mit Abstand allen voran, die in Ludwigsburgs ansässige Filmakademie Baden-Württemberg gelten als Talentschmiede weit über den Südwesten hinaus.
„Pornfluencer“
Zu dem an der Filmakademie ausgebildeten Nachwuchs zählen u. a. Joscha Bongard (Regie), Jakob Sinsel (Kamera), Wolfgang Purkhauser (Editing) und Louis Wick (Producer), die ihren Dokumentarfilm „Pornfluencer“ vorstellen. Das Porträt der freizügigen Internet-Stars Jamie Young und Nico Nice aka Youngcouple9598 feierte beim DOKfest München 2022 Premiere und war für den Dokumentarfilmpreis des Goethe-Instituts 2022 nominiert. Was zunächst anmutet wie ein sexpositives Porträt des Paares, entwickelt sich schnell zu einem ungeschönten, jedoch teilweise auch unkritischen Blick hinter die Fassade privater Couple-Porn-Anbieter. Für das vermeintlich leicht im Internet verdiente Geld zahlt das Influencer-Paar, insbesondere die kindlich-mädchenhaft agierende Frau, einen fragwürdigen Preis.
„Kash Kash“
Mit einem First-Step-Award, dem wichtigsten Nachwuchspreis der deutschen Filmbranche, wurde in diesem Jahr Lea Najjar für ihren Diplomfilm „Kash Kash“ ausgezeichnet. Er entstand in der Reihe „Junger Dokumentarfilm“, einer seit 2000 bestehenden Kooperation zwischen Filmakademie Baden-Württemberg, dem SWR und der MFG . Die Regisseurin Lea Najjar hat in der Stadt ihrer Herkunft, Beirut, gedreht. Ihr Abschlussfilm führt in die Welt der Taubenzüchter der ärmeren, meist muslimischen Viertel. Auf den Dächern widmen sich Männer in ihrer Freizeit dem Kash Haman, einem im Libanon populären Wettkampf, bei dem es darum geht, den Gegnern ihren Taubenschwarm abzujagen und die Vögel auf das eigene Dach in die eigenen Gehege zu lenken.
Ein eindringlich-einfühlsamer Film über Perspektivlosigkeit, Überlebenskampf, Desillusion, aber auch über Träume und Sehnsüchte in einer von religiösen, sozialen und politischen Konflikten zerrissenen Stadt. Eine Teamarbeit, bei der vor allem die fulminant geführte Kamera (Jonas Schneider) auffällt: nah an den Menschen, agil, beweglich und sensibel erzählend. Die Produktion feierte beim DOK.fest München 2022 Premiere und ist Teil der 22. Staffel der SWR-Sendereihe „Junger Dokumentarfilm“ .
Außerdem im Programm (Auswahl): „Germany Represent – jung, weiblich, politisch“ von Jannika Quaas (Hochschule der Medien Stuttgart und Filmakademie Baden-Württemberg) über die ersten trans* Frauen im Bundestag, „Die Astronauten von Feuerbach“ von Johann Schilling (Filmakademie Baden-Württemberg) über die größte Autowaschanlage Europas, „Tschüss, war schön“ von Simon Schares (Filmakademie Baden-Württemberg), ein von Corona durchkreuztes Filmprojekt über ein Bestattungsinstitut, sowie zwei Dokumentarfilme von Jonathan Brunner (Filmakademie Baden-Württemberg). „Border Conversations“ begleitet polnischen Aktivistinnen, die versuchen, illegal einreisenden Migrant:innen an der Grenze zu helfen. „Weiße Rosen“ über Julian Aicher, Neffe der Geschwister Scholl und Sohn des Designers Otl Aicher, versteht sich als „einen Film über Widerstandskultur als Familientradition und ein Leben im Schatten des Erbes“.
Investigativer Dokumentarfilm „made in Stuttgart“
„Auf der Spur des Geldes“ der beiden Regisseurinnen Susanne Binninger und Britt Beyer begleitet das Recherchenetzwerk CORRECTIV bei der Arbeit. Der Dokumentarfilm wurde von Corso Film- und Fernsehproduktion aus Stuttgart mit ZDF/Arte hergestellt sowie durch Sono2 Filmton (Stuttgart) und Bewegte Bilder (Tübingen) als Dienstleister im Bereich Ton- bzw. Bildpostproduktion gestaltet. Entstanden ist eine hochwertig gedrehte, spannend und sehr klar strukturierte Dokumentation über journalistische Ausdauer und Investigation. Dabei werden zwei hochbrisante Recherchen parallel montiert.
„Auf der Spur des Geldes“
In dem einen Erzählstrang versucht das Team von CORRECTIV herauszufinden, ob hinter einer Werbekampagne zugunsten der AFD eine millionenschwere Parteispendenaffäre steht. Es geht darum, wer die anonymen Finanziers sind, die mit ihrem Geld Einfluss nehmen wollen auf die Demokratie. Im zweiten Erzählstrang ist das Team internationalen Steuerbetrügern auf der Spur. CORRECTIV möchte beweisen, dass bei den „CumEx-Files 2.0“ Banker, Anwälte und Berater mit illegalen Steuergeschäften noch immer Milliardensummen aus öffentlichen Kassen rauben und dem Gemeinwohl ungebremst enorme Schäden zufügen. Um das System der verborgenen Geldflüsse zu enthüllen, bauen die Investigativ-Journalist:innen ein kollaboratives Recherchenetz aus fünf Kontinenten auf. Selten wurde journalistische Detektivarbeit inklusive ihrer Fallstricke, Widerstände und juristischen Risiken so mitreißend dokumentiert. Susanne Binninger und Britt Beyer erzählen in ihrem Film einen Krimi – leider stammt er aus der Wirklichkeit. Aber sie zeigen auch, wie wichtig investigativer Journalismus und freie Medien als vierte Gewalt in politischen Systemen sind.
Der MFG-geförderte Dokumentarfilm wurde bei einem DOKVILLE Panel im Juni 2022 rege diskutiert. Das Screening im Rahmen der Filmschau lädt das Publikum nun erneut dazu ein, in den Austausch mit den Macher:innen zu kommen. Der Protagonist Marcus Bensmann, die TV-Redakteure sowie Teile des Filmteams sind für ein Gespräch angekündigt.
Schwäbisch-badischer Pioniergeist
Dem schwäbisch-badischen Pioniergeist widmen sich gleich mehrere Dokus bei der Filmschau. Der in Stuttgart geborene und nun in Tübingen lebende Dokumentarfilmer Harald Weiß porträtiert in „Wirklich oben bist du nie“ den Heidelberger Reinhard Karl, der zu den prominentesten deutschen Bergsteigern zählt. Verwendet werden Interviewsequenzen mit Freunden und Weggefährten (u. a. Reinhold Messner, Bernd Arnold, Oswald Oelz, Bernd Kullmann und Sepp Gschwendtner), eigene Bilder und Texte von Reinhard Karl sowie Archivmaterial, u. a. Ausschnitte aus Fernsehproduktionen der 1970er und 1980er Jahre.
Außerdem im Programm (Auswahl): Der Stuttgarter Lutz Schmidt, Absolvent der Hochschule der Medien, begleitet in „Blackforestwave – Surf your Local River“ den gleichnamigen Pforzheimer Verein, der in der Pforzheimer Enz eine echte Surferwelle zum Exportschlager macht. Einen alternativen Lebensentwurf zeigt „Die Stangenbohnen Partei“. Serena Engel und Jared Rust machen Musik und vertreten das Konzept von bedingungsloser Grundnahrung. Das Gros der Ernte von ihrem kleinen Hof nahe Kißlegg verschenken sie.
Doku-Preise bei Filmschau und JuFi
Im Rahmen der Filmschau Baden-Württemberg werden mehrere Preise vergeben. Das Haus des Dokumentarfilms stiftet mit dem Filmbüro Baden-Württemberg hälftig den Preis für den besten Dokumentarfilm. Er ist mit 2.000 Euro dotiert. In der Jury sind die Regisseurin Antonia Kilian (die zuletzt den Dokumentarfilm „The Other Side of the River“ realisiert hat), die Dramaturgin und Film-Kuratorin Elisa Kromeier sowie Ulrike Becker als Leiterin des Hauses des Dokumentarfilms. Eingebettet in die Filmschau Baden-Württemberg läuft der Wettbewerb um den Jugendfilmpreis BW (kurz: JuFi). Laut Statuten können sich Nachwuchstalente bis 22 Jahre aus Baden-Württemberg beteiligen. Beim JuFi stiftet das HDF den Preis (500 Euro) für das beste dokumentarische Newcomer-Projekt.
Besonders schön: Die aus Weinstadt stammende Regisseurin Anja Gurres ist ehemalige Preisträgerin des JuFi und eröffnet die diesjährige Filmschau Baden-Württemberg mit ihrem fiktionalen Episodenfilm „Balconies“ (7.12.22, 20 Uhr, Gloria 2).
Weiterführende Informationen, auch zum Rahmenprogramm, sowie VVK für die Innenstadtkinos Stuttgart via filmschaubw.de
(Elisa Reznicek/Ulrike Becker)