So war die DOK Premiere von DAS HAMLET SYNDROM
Sechs junge Menschen proben in einem Theater in Kiew. Drei von ihnen waren im Krieg von 2014 an der Front im Donbas. Ihre traumatischen Erfahrungen haben die Filmschaffenden Elwira Niewiera und Piotr Rosołowski zu einen Hamlet-Experiment verarbeitet.
Akt I. Generation Euromajdan
Das Regie-Duo Elwira Niewiera und Piotr Rosołowski hat für seinen Ukraine-Dokumentarfilm schon vor dem Kinostart drei wichtige Preise bekommen, zuletzt den Grand Prix der „Semaine de la critique“ in Locarno und bereits im Frühjahr 2022 den vom Haus des Dokumentarfilms vergebenen Roman Brodmann Preis. Die Produktion war gerade abgeschlossen, als am 24. Februar 2022 Putin seinen Angriffskrieg gegen die Ukraine startete. Niewiera und Rosołowski beschäftigen sich mit dem Land schon seit 2013. Damals begannen in Kiew die Proteste, die wir rückblickend als Majdan-Revolution oder Euro-Majdan bezeichnen. Sie führten zum Regierungswechsel in der Ukraine und 2014 zur völkerrechtswidrigen Annexion der Krim durch Russland. Die Entschlossenheit der Majdan-Bewegung habe sie zutiefst beeindruckt und zu ihrem aktuellen Film inspiriert, so Piotr Rosołowski bei der DOK Premiere. „Die Menschen in der Ukraine erlebten einen Moment des ‚Erwachens‘, nicht nur ein politisches Erwachen. Es war auch für jeden Einzelnen die Frage: Was kann ich tun, um mein Land zu verändern?“
Piotr Rosołowski (l.) bei der DOK Premiere im Delphi Arthaus Kino Stuttgart
© Günther Ahner/HDF
Akt II. Sein oder Nichtsein? Kämpfen oder nicht kämpfen?
Der blutige Konflikt, der bis heute eskaliert, habe die Ukrainer:innen genau wie Shakespeare seinen Helden Hamlet klar vor die Entscheidung gestellt: „Kämpfen oder nicht kämpfen?” Rosołowski, der beim „Hamlet-Syndrom“ selbst die Kamera geführt hat, betont, dass schon im Krieg von 2014 die Menschen in der Ukraine unvorstellbare Traumata erleben mussten. „Viele wurden konfrontiert mit Erfahrungen, die wir sonst nur von unseren Großvätern aus dem Zweiten Weltkrieg kennen“, erzählt er. Niemand aus der Generation Majdan, also derjenigen, die nach der Auflösung der Sowjetunion geboren wurden, sei auf bewaffnete Auseinandersetzungen vorbereitet gewesen. Die ukrainische Jugend habe mit Krieg, Gewalt, Gefangennahme oder Folter – anders als ihre Eltern und Großeltern – keinerlei Erfahrung gehabt. Daher, so Rosołowski auf eine Publikumsfrage, habe der Titel „Das Hamlet-Syndrom“ nahegelegen. Er bringe die Zerrissenheit der damaligen Generation Majdan am besten auf den Punkt.
Akt III. Casting und Traumata
Elwira Niewiera und Piotr Rosołowski machten sich nach den Majdan-Ereignissen also auf die Suche nach ukrainischen Hamlets. Für ihren neuen Film wollten sie Kriegsbetroffene und Kriegszeugen casten, um mit ihnen vor der Kamera eine moderne, ukrainische Hamlet-Adaption zu inszenieren. Sie hätten, so Rosołowski, während des Castings unzählige aufwühlende Geschichten gehört. Mit bis zu 80 Betroffenen haben sie gesprochen. Doch den meisten habe die Kraft gefehlt, ihre Erlebnisse auch vor der Kamera zu thematisieren. Aus der Recherche gingen am Ende fünf Protagonist:innen hervor, mit denen Niewiera und Rosołowski die Arbeit mit der Kamera starten konnten.
Darunter ist Oksana Cherkashyna, die einzige professionelle Schauspielerin, die anderen vier sind Laien. Sie haben unterschiedlichste Erfahrungen mit dem Krieg. Katja Kotliarova, Slawik Gavianets und Roman Kryvdyk kämpften 2014 an der Front im Donbas, der queere Rodion Shuygin-Grekalov musste von dort fliehen. Nützlich für das Konzept, das Niewiera und Rosołowski verfolgten, erwies sich, dass die Bühnen-Dramaturgin ihres Hamlet-Experiments Krieg ebenfalls erlebt hatte. Die Theaterfrau Roza Sarkisian kam in den 90-ern als Geflüchtete aus Bergkarabach nach Kiew. „Zum einen hat sie dem Ukraine-Russland-Konflikt gegenüber Distanz, andererseits konnte sie ihre ukrainischen Darsteller:innen allzugut verstehen, weil Krieg auch zu ihrer Kindheit gehört hatte”, so Rosołowski. „Roza erzählte beim Dreh, dass sie sich an den Beschuss der Stadt, in der sie ihre Kindheit verbracht hat, immer würde erinnern können. Deshalb war Krieg auch immer ein Thema, das ihre Theaterarbeit geprägt hat.”
Akt IV. Theater als Therapie
Das dokumentarische Film-Set ist fast durchgängig ein geschlossener Theaterraum: immer wieder Probensituationen, gemeinsame Erarbeitung des Stoffes, Diskussionen, Ausbrüche, Streit – typisches Experimentaltheater. Das Ensemble soll das Erlebte, also Hamlets Dilemma „Sein oder Nichtsein“, zu seinem persönlichen Dilemma „Kämpfen oder Sterben“ in Beziehung setzen. In einem sich stetig verdichtenden Prozess kommen Trauer und Traumata ans Licht. Wenn die Darsteller:innen ins Stocken geraten, mit Tränen kämpfen oder die Probe unterbrechen, ist Rosołowskis Kamera unglaublich dicht dran. Doch nie wird sie übergriffig oder stört den in Gang gekommenen Prozess. Ob der geschützte Theaterraum den Ensemblemitgliedern dabei geholfen hat, sich zu öffnen, möchte Goggo Gensch vom Haus des Dokumentarfilms wissen. „Für den ehemaligen Soldaten Slawik war es von Beginn an das Ziel, das Theater wie eine Therapie zu nutzen. Trotzdem schaffte er es erst am Ende der Proben, sich zu öffnen“, berichtet Rosołowski. „Ganz anders verhielt sich Katja: Sie sprach von Anfang an offen über das, was ihr widerfahren ist. Nach der Erfahrung an der Front konnte sie in ihr normales Leben kaum mehr zurückfinden. Sie musste sich neu erfinden. Und vermutlich brauchte sie einfach einen Impuls .“
Akt V. Begegnungen mit der Familie
Meurer zeigt durch seine Protagonist:innen, wie unterschiedlich Brit:innen mit dem Brexit umgehen, oft ohne unmittelbar darüber zu sprechen. Auf der einen Seite gibt es diejenigen, die zufrieden damit sind und für einen Austritt aus der Europäischen Union gestimmt haben. So beispielsweise ein Krabbenfischer, der auf seinem Boot erklärt, dass Großbritannien eine rosige Zukunft ohne die EU bevorstünde. Sein Land schaffe das, es trage schließlich nicht umsonst das Prädikat „Great“ in Great Britain. Auf der anderen Seite fragen sich diejenigen, die dagegen waren, wo Sinn und Zweckmäßigkeit einer solchen Abtrennung ihres Landes liegen sollen. Ein Protagonist erklärt, dass seine Schwiegereltern gerade zu Besuch sind. Er weiß, dass sie anders gewählt und für den Brexit gestimmt haben. Aber er erkennt auch, dass er trotzdem mit ihnen auskommen muss, denn es sind immer noch seine Schwiegereltern. Auch Meurer merkt an: „Es ist nicht schlimm, wenn man anderer Meinung ist. Man kann auch gemeinsam anderer Meinung sein. Das ist es, was man an diesem Ort so gespürt hat.“
Filmszene. Katja (.l) und ihre Mutter (r.)
© Piotr Rosołowski
Hintergründe zur Produktion und aktuelle Lage
Als das Regie-Duo seine Dreharbeiten 2019 begann, erzählt Rosołowski, habe es enorme Schwierigkeiten gehabt, die Finanzierung des Projekts abzusichern. „Einerseits gab es bereits viele Filme über die Ukraine, die Majdan-Bewegung und den Krieg im Donbas. Andererseits existierten in der globalen und europäischen Wahrnehmung die russisch-ukrainischen Konflikte nicht mehr.“ Mit dem Polnischen Film Institute fand sich die entscheidende Anfangsunterstützung. Dennoch gestaltete sich die weitere Suche in Deutschland — beide leben in Berlin — langwierig. Schließlich stiegen der SWR und ARTE ein und es kam zu einer polnisch-deutschen Koproduktion. Ausführende Firma war die Berliner Kundschafter Filmproduktion. „Das Hamlet-Syndrom“ befand sich in den letzten Schritten der Postproduktion, als im Februar 2022 der bis heute eskalierende Krieg begann.
Das Publikum der DOK Premiere bewegt natürlich auch die Frage, ob Rosołowski und Niewiera noch Kontakt zu ihren Darstelleri:innen haben und wissen, wo sie sich heute befinden. Rosołowski bejaht. Der queere Rodion habe vergeblich aus der Ukraine zu fliehen versucht. Er sei jetzt in Kiew und nähe Militäruniformen. Oksana und Roza seien nach Polen ausgewandert und planten nicht, in die Ukraine zurückzukehren. Von Katja, Slawik und Roman weiß Rosolowski, dass sie sich wieder in militärischen Strukturen befinden, Slawik als Ausbilder, Katja bei der humanitären Hilfe in Kiew und Roman als Sanitäter an der Front.
„Roman war sehr lange im Donbass in der Nähe von Bachmut eingesetzt, das ist eines der am heftigsten umkämpften Gebiete“, berichtet Rosolowski. „Als unser Film fertig war und wir die ersten Festival-Screenings hatten, hat er uns eine Video-Botschaft für das Publikum geschickt. Können wir sie hier mal einspielen?“ Das DOK Premieren-Publikum ist von der Grußbotschaft sichtlich bewegt. Roman spricht über seinen Dienst an der Front, über die Evakuierungen, den Abtransport von Verwundeten und Getöteten, er appelliert an die Kino-Anwesenden, den Krieg und das damit verbundene Unheil nicht zu ignorieren. „Ich wünsche allen, dass sie ihre Menschlichkeit und Wachsamkeit nicht verlieren“, schließt er sein Video.
Abschließend kommt die Diskussion noch einmal auf den Filmtitel. Zur heutigen Lage würde er nicht mehr passen, so Rosołowski. „Denn es gibt kein ‚Vielleicht‘ oder ‚Vielleicht nicht‘ mehr. Das ist das Tragische an der Situation: Heute kann man nicht mehr überlegen, man muss handeln.“
Die DOK Premiere ist eine vom Haus des Dokumentarfilms kuratierte Filmreihe. Sie präsentiert einmal im Monat in Ludwigsburg und Stuttgart aktuelle Kinostarts von Dokumentarfilmen. Die jeweiligen Regisseur:innen sind für Werkstattgespräche mit dem Publikum vor Ort. Kuratoren sind Goggo Gensch (Stuttgart) und Kay Hoffmann (Ludwigsburg).
Elwira Niewieras und Piotr Rosołowskis „Das Hamlet-Syndrom” ist eine Produktion von Kundschafter Filmproduktion und Balapolis in Koproduktion mit SWR, ARTE und Canal + in Zusammenarbeit mit Chicken & Egg Pictures. Gefördert von Polnisches Film Institute, Polnisch-Deutscher Filmfonds, Filmförderungsanstalt (FFA), Medienboard Berlin-Brandenburg, Creative Europe Media, Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien (BKM), Robert Bosch Stiftung und Literarisches Colloquium Berlin. Im Verleih von Real Fiction.