Berlinale Dokpreis: deutschsprachige Produktionen
Um den Berlinale Dokumentarfilmpreis, der vom rbb mit 40.000 € dotiert ist, konkurrieren 2023 u. a. mehrere Werke aus Deutschland bzw. Österreich. Sie zeigen ein breites Spektrum dokumentarischen Schaffens. HDF-Filmexperte Kay Hoffmann stellt drei davon vor.
„Gehen und Bleiben“: Liebeserklärung an Vorpommern
In seinem neuen, dreistündigen Dokumentarfilm „Gehen und Bleiben“ beweist Volker Koepp Stiltreue. Es geht vor allem um die Menschen und Landschaften im Nordosten Deutschlands, in Mecklenburg-Vorpommern. Vordergründig begibt er sich auf Spurensuche nach dem bekannten Schriftsteller Uwe Johnson, der hier geboren wurde, aber in der DDR schnell aneckte und in den Westen ging. Koepp spürt einige Menschen auf, die mit ihm befreundet waren, die ihn gekannt haben oder sonstige Anknüpfungspunkte mit ihm hatten. Er verzichtet bewusst weitgehend auf historisches Archivmaterial und konzentriert sich ganz auf die Gespräche, die er in seinem persönlichen Stil mit viel Bedacht führt.
Ebenso wichtig sind die ruhigen Aufnahmen der Landschaften, der Flüsse und natürlich des Meeres, die sein Kameramann Uwe Mann eingefangen hat. Damit erzählt er die Geschichte und Geschichten dieser Region, die die Identität der Menschen prägen und für ein Stück Heimatgefühl sorgen. Etwas, das auch Johnson in seinen Texten, die ausführlich zitiert werden, getan hat. Es wird deutlich, dass Johnson dieser Landschaft sehr verbunden war. Sein letzter Lebensort an der Küste Englands ist ihr sehr ähnlich. Koepp ist eine spannende Auseinandersetzung mit dem Autor und seiner Verwurzelung in Vorpommern gelungen.
„Vergiss Meyn nicht“: Protest bis zum Äußersten
Die Aktivist:innen im Hambacher Forst sind eng verwurzelt mit diesem Stück Wald, das für sie eine Art Heimat geworden ist. Sie kämpfen 2018 gegen den Energiekonzern RWE und für den Erhalt der Bäume, die sie nicht dem Braunkohleabbau opfern wollen. Es ist ein hochpolitischer, globaler Kampf um die Rettung des Klimas und letztlich unserer Erde und Lebengrundlage. „Vergiss Meyn nicht“ ist ein starker Film mitten aus dieser Bewegung heraus. Steffen Meyn, der an der Kunsthochschule in Köln studierte, wollte einen Film über die Proteste drehen. Dafür hatte er sich ein spezielles visuelles Konzept überlegt. Mit einer 360°-Kamera auf dem Helm begleitete er den Widerstand. Direct Cinema pur. Er zeigte die Proteste, die Polizeieinsätze, kletterte auf Bäume, schlief in den engen Baumhäusern. Er suchte nicht die journalistische Distanz, sondern war Teil der Bewegung, nahm auch die Diskussionen über Formen des Protestes und den Umgang mit Gewalt auf. Es gab Unterschiede, wie weit Einzelne dabei gehen wollten. Steffen Meyn brachte das größte Opfer: sein Leben. Bei der Räumung der Baumhäuser 2018 stürzte er aus großer Höhe ab und starb.
Fabiana Fragale, Kilian Kuhlendahl und Jens Mühlhoff, die ebenfalls in Köln studierten, haben aus seinem Material diesen beeindruckenden, sehr dynamischen Film gestaltet, der um Interviews mit Aktivist:innen ergänzt wurde. „Vergiß Meyn nicht“ beginnt und endet mit dem traumatischen Ereignis. Nach dem Tod von Steffen Meyn wurde die Räumung eingestellt und es gab Großdemonstrationen, so dass der Forst noch steht. Mit dem Film wird sowohl den Protesten im Hambacher Forst als auch Steffen Meyn ein Denkmal gesetzt, was auch schon im Filmtitel als Ziel formuliert ist.
„Stams“: Rekorde, Schweiß und Tränen
Ein anderes Konzept für das eigene Leben und die persönliche Karriere haben die Schüler:innen des Skiinternats im österreichischen Stams. Hier geht es um das Training von Leistungsträger:innen im Wintersport, das mit 14 Jahren beginnt. Skisport hat in Österreich nationale Bedeutung und gehört zur Identität des Landes. Es wird den Sportler:innen eingebläut, dass das Internat und seine Trainer:innen nur die Grundlagen bieten könnten, es aber letztlich um den Siegeswillen eines jeden Einzelnen gehe. Es zähle der Wille, das Beste daraus zu machen. Letztlich gelingt es nur ein bis zwei Prozent der Jugendlichen, wirklich in die Weltspitze vorzustoßen. Angesichts dessen überrascht es, wie wenig Konkurrenz zwischen ihnen herrscht. Ein Grund dafür könnte die Tatsache sein, dass sie im Internat zusammenwohnen und miteinander auskommen müssen.
Regisseur Bernhard Braunstein hat sich für eine teilnehmende Beobachtung entschieden und verzichtet völlig auf eine Kommentierung. Mit seiner Kamerafrau Serafin Spitzer erzählt er den Alltag im Internat aus der Perspektive der Hoffnungsträger:innen. Die Filmschaffenden heben nicht Einzelpersonen hervor, sondern begleiten die Schüler:innen – auch wegen Corona – über einen langen Zeitraum. Die Kamera ist nah dran an ihren Gesichtern und Körpern. Die Direktion des Internats hat sich auf dieses Experiment eingelassen, bei dem durchaus auch die dunklen Seiten des Leistungssports zu Tage treten – seien es die Verletzungen, mit denen alle früher oder später konfrontiert sind, oder die Doping-Frage. Entspricht die Leistung in den Rennen nicht den Erwartungen, fließen schon mal Tränen. Einige fragen sich auch, was aus ihnen wird, wenn es nicht klappen sollte und sie den hohen Erwartungen nicht gerecht werden können.
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