Für den vom rbb dotierte Berlinale Dokumentarfilmpreis, sind u.a. die beiden französischsprachigen Produktionen „Orlando, ma biographie politique“ und „Notre Corps“ im Rennen. In beiden geht es um die Rechte am eigenen Körper.
Wer bestimmt, welche Eingriffe in den Körper oder die Identität eines Menschen zulässig oder notwendig sind? Staat, Ärzte, Eltern und Lebenspartner:innen erheben gerne Anspruch auf ein Mitbestimmungsrecht. Dabei kann dies nur die Person entscheiden, die mit den physischen und psychischen Konsequenzen leben muss.
Zwischen den Geschlechtern: „Orlando, ma biographie politique“
„Orlando, My Political Biography“ (OT: „Orlando, ma biographie politique“) feierte auf der Berlinale 2023 in der Sektion Encounters Weltpremiere. Im Debutfilm von Paul B. Preciado sprechen transsexuelle Menschen davon, als wie befreiend sie den Wandlungsprozess ihres Körpers empfunden haben. Denn egal, wie weit sie bei der körperlichen Modifikation gehen: Es bleibt die Tatsache, dass es eine Zeit in einem anders gelesenen Körper gab. Sie sind also eingeweiht in die Geheimnisse mehrerer Geschlechter.
Virginia Woolf als Vorreiterin
Diese besondere Erfahrung führt auch in Virginia Woolfs 1928 verfassten Roman „Orlando“ zu einer besonderen Perspektive. Darin wird aus dem titelgebenden männlichen Hauptcharakter wie durch Magie eine Frau. Daran schließt sich eine essenzielle Erkenntnis an: Der Charakter Orlandos bleibt stets derselbe, nur die an ihn herangetragenen gesellschaftlichen Umstände, Ansprüche und Zwänge ändern sich. Damit ist dieses Werk der britischen Autorin und Verlegerin der optimale Bezugspunkt des Films von Paul B. Preciado. Auf teils spielerische, teils sehr ernsthafte Weise werden Träume, psychische Abgründe und medizinische Vorurteile verhandelt.
In „Orlando, ma biographie politique“ verkörpern Menschen verschiedenen Alters die Romanfigur Orlando in diversen Lebensperioden. Zudem berichten sie jeweils von ihren persönlichen Erfahrungen auf dem mitunter steinigen Weg zur Synchronität von Körper und Geschlechteridentität. Paul B. Preciados Debütfilm „Orlando, ma biographie politique“ ist ein Manifest wider dem binären Definitionszwang.
Von der Stärke weiblicher Körper: „Notre Coprs“
Für ihren beeindruckenden dreistündigen Dokumentarfilm „Our Body“ (OT: „Notre Corps“) drehte Claire Simon zwei Monate lang den Alltag in einer gynäkologischen Klinik in Paris. Schnell wird klar: Frauen müssen stark sein – sei es bei einer Abtreibung, Endometriose-Behandlung, Geburt oder schlicht der monatlichen Periode. Selbst jugendliche Transfrauen werden darauf vorbereitet, dass die medikamentöse Einleitung der Menopause ab dem 50sten Lebensjahr obligatorisch sei. Anhand von Beratungsgesprächen und Operationen verdeutlicht die Filmemacherin, was es heißt, einen weiblichen Körper zu haben. „Leider ist das häufig mit großen Schmerzen verbunden. Doch Schmerzen sind das Einzige, was man nicht filmen kann“, bedauerte sie im Publikumsgespräch.
Vulnerable Momente
Es gelingt Claire Simon immer wieder, mit ihrer Kamera starke Emotionen auf den Gesichtern ihrer Protagonist:innen einzufangen, ohne dabei entblößend zu wirken. Gleichzeitig zeigt sie Gesten des Beistands, beispielsweise einen kurzen Händedruck oder ein Streicheln übers Haar. Ohne die Hilfe von Angehörigen wären viele Situationen kaum durchzustehen. Eine weitere wichtige Hilfestellung in der modernen Medizin sind Maschinen. Die vielen technischen Elemente wie Ultraschallgeräte, Mikrokameras und Roboterarme bilden einen harten Kontrast zu der weichen Verletzlichkeit der gezeigten Körper.
Wem gehört ein Körper?
Aufgrund der mitunter sehr intimen Momente im Film erbat Simon von allen Beteiligten sowohl beim Dreh als auch nach dem Schnitt eine Zustimmung. Dies sollte eine gute Vertrauensbasis schaffen. Dabei habe sie immer wieder die Erfahrung gemacht, dass Männer stellvertretend für ihre Partnerin mit Nein antworteten. „Da habe ich gesagt: ,Entschuldigung, aber ich rede mit Ihrer Frau.‘ Deren Ja war dann häufig sehr bestimmt. Ich hatte den Eindruck, sie wollten bezeugen, was sie alles auf sich nehmen; beispielsweise bei einer Kinderwunsch-Behandlung mittels künstlicher Befruchtung.“
Claire Simon ermuntert mit „Notre Corps“ insbesondere Frauen und Transfrauen dazu, sich ihrer Wahlfreiheit und Rechte in Bezug auf ihren eigenen Körper bewusst zu werden. Sie selbst erhielt einige Monate nach Beginn der Dreharbeiten die niederschmetternde Diagnose Brustkrebs. Der damit einhergehenden Angst, Ohnmacht und den vielen Fachausdrücken kam sie nur bei, indem sie niemals aufhörte, Fragen zu stellen: „Arztinnen und Ärzte müssen Antworten geben. Das gehört zu ihrem Beruf dazu. Und wer versteht, was gerade geschieht, leidet auch weniger.“
Für Claire Simon ging diese Strategie auf: Sie konnte ihre Krankheit zurückdrängen und feierte mit „Notre Corps“ Weltpremiere in der Sektion „Forum“, einer vom Arsenal – Institut für Film und Videokunst kuratierten und unabhängig organisierten Programmreihe im Rahmen der Berlinale.