In vielen Produktionen, die für den Berlinale Dokumentarfilmpreis nominiert sind, geht es darum in schwierigen Zeiten Hoffnung und eine Perspektive zu geben. Kay Hoffmann vom HDF stellt „Kiss The Future“, „We will not fade away“ und „The Walls of Bergamo“ vor.
Musik als Ermutigung: „Kiss The Future“
Anfang der 1990er Jahre gab es schon einmal Krieg in Europa. Die Serben griffen im Rahmen der Jugoslawienkriege Bosnien-Herzegowina an und belagerten die Hauptstadt Sarajevo. Scharfschützen nahmen auch Zivilisten ins Visier; es gab zahlreiche Opfer. Um in dieser lebensbedrohlichen Situation stark zu bleiben, organisierten Kreative eine Gegenkultur mit Musik und Theater. Sie wollten dem menschenverachtenden Bosnienkrieg etwas entgegensetzen. In der Disko konnte man den Krieg vergessen – zumindest für ein paar Stunden. Ein weiteres Ziel war es, Aufmerksamkeit und Unterstützung in Europa zu generieren.
Beeindruckt zeigte sich u. a. Bono von U2. Er ließ sich bei einem Konzert in Italien von Sarajewo TV interviewen und versprach ein Konzert in der umkämpften Stadt. Da dies dann doch zu gefährlich war, schaltete er 1993 auf seiner „ZOO TV“-Tour eine Zeit lang live nach Sarajewo, damit die Menschen dort ihre Not schildern konnten. Ein Zeichen der Solidarität, das wahrgenommen wurde. Nach dreieinhalb Jahren Krieg kam es 1995 zum Abkommen von Dayton, das den Krieg in Bosnien und Herzegowina beendete. Danach trat die Band U2 wie versprochen im Stadion von Sarajewo auf. Dieses Konzert vor 45.000 Fans ist legendär, denn es gilt als Symbol für den Zusammenhalt über alle nationalistischen und religiösen Gegensätze hinweg. „Kiss the Future“ von Nenad Cicin-Sain ist ein packender Dokumentarfilm mit viel Verve, der diesen Prozess rekonstruiert. Durch die U2-Musik entwickelt der amerikanische-irische Film viel Drive und reißt die Kinozuschauer:innen mit. Er zeigt, wie wichtig Kultur als Hoffnungsanker in kriegerischen Konflikten sein kann.
Reisen als neue Lebenserfahrung: „We will not fade away“ (OT: „My ne zgasnemo“)
Filme über den vor einem Jahr begonnenen Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine sind sehr präsent auf der Berlinale 2023. Alisa Kovalenko hat für „We will not fade away“ Jugendliche, die aus dem schon seit 2014 umkämpften Donbass-Gebiet stammen, über lange Zeit filmisch begleitet. Es ist ein Ansatz, der den Dokumentarfilm von anderen Produktionen abhebt. Ein Extremsportler hatte die Jugendlichen für eine Expedition ins Himalaya-Gebirge ausgewählt. Das Training und die Reise geben Andriy, Illia, Lera, Liza und Ruslan Hoffnung, ihrer verzweifelten Situation entfliehen zu können. Schüsse und Detonationen der Gefechte sind für die Mädchen und Jungen Teil ihres Alltags geworden, wie Kovalenko dokumentiert. Die Reise öffnet ihnen die Augen, wie die Welt auch aussehen kann.
Nach dem Einmarsch Russlands im Februar 2022 meldete sich Alisa Kovalenko bei einem Freiwilligencorps. Nach vier Monaten überzeugte ihr Produzent sie allerdings, dass es für sie als Filmemacherin sinnvoller ist, an der Kulturfront zu kämpfen. „We will not fade away“ wurde in der Sektion Generation 14plus gezeigt und in der ausverkauften Urania mit Standing Ovations gefeiert. Drei der Hauptprotagonist:innen waren ebenfalls nach Berlin gekommen. Sie betonten, was für ein Einschnitt der aktuelle Krieg Russlands gegen die Ukraine für sie sei. Zum Teil leben sie in Westeuropa und sind von ihren Familien getrennt, die für sie alles bedeuten. Zwei der Jugendlichen sind noch in den von Russland besetzten Gebieten – zu ihnen ist kein Kontakt möglich. Der Dokumentarfilm „We will not fade away“ wirft einen anderen Blick auf den Krieg, indem er die Perspektive der Jugendlichen spiegelt, die ihre eigene Zukunft klar in Europa sehen.
Vom Kampf um Leben und Tod: „The Walls of Bergamo“ (OT: „Le mura di Bergamo“)
Erstaunlich wenige Dokumentarfilme zur Corona-Krise und ihrer Bewältigung wurden auf der Berlinale 2023 gezeigt. Eine Ausnahme ist der italienische Dokumentarfilm „The Walls of Bergamo“ (OT: „Le mura di Bergamo“) von Stefano Savona. Die oberitalienische Stadt Bergamo wurde ab Ende Februar 2020 zum Epizentrum der Pandemie, wohl auch wegen der vielen chinesischen Hilfsarbeiter in der Textilindustrie, die das Virus „einschleppten“. Über 6.000 Menschen starben. Das Bild von den Militärkonvoi, die Särge wegfuhren, hat sich in das kollektive Gedächtnis eingebrannt.
Savona rekonstruiert die dramatischen Tage vor allem auf der Tonebene. Zu hören sind beispielsweise verzweifelte Anrufe von Angehörigen, die nach einem Platz im Krankenhaus oder zumindest mobiler Betreuung suchen. Viel zu oft muss die Anfrage abgelehnt werden, da das Gesundheitssystem am Limit ist. Dazu kommen Bilder von Patient:innen, die hinter Geräten verschwinden. Das medizinische Personal kümmert sich zum Teil fürsorglich und bringt ein Stück Menschlichkeit ein. Amateurfilme verweisen auf Erinnerungen und Zeiten, in denen es vermeintlich besser ging. Draußen auf der Straße gibt es derweil erste Proteste gegen das politische Versagen und das Scheitern des Gesundheitssystems.
Doch hier macht „The Walls of Bergamo“ nicht Schluss: Der Dokumentarfilm geht viel weiter, da es auch um die persönliche Aufarbeitung und psychologische Betreuung der Angehörigen geht. Stefano Savona zeigt, dass viele von ihnen Probleme haben über ihre Traumata zu sprechen. Egal, wie sie gehandelt haben, sie machen sich oft Vorwürfe, es falsch gemacht zu haben. Der Dokumentarfilm „The Walls of Bergamo“ ruft beängstigende Situationen aus der Pandemie wach, versucht sie aber auch als Reflektionen über Leben und Tod in etwas Produktives zu verwandeln.