20. Kopenhagener Dokumentarfilmfestival CPH:DOX
Das Kopenhagener Dokumentarfilmfestival CPH:DOX (15.-26.3.23) feiert seinen 20. Geburtstag. Angekündigt sind 200 aktuelle Produktionen etablierter Filmschaffender und von Newcomern, darunter über 100 Weltpremieren.
„Predicting the Past, Rewriting the Future“
Das Festivalmotto lautet „Predicting the Past, Rewriting the Future“, die parallel stattfindende CPH:CONFERENCE läuft unter dem Titel „Future At Our Fingertipps“. Diesen Leitgedanken trägt auch der Opener TWICE COLONIZED von Lin Alluna in sich, der im Wettbewerb NEXT:WAVE antritt und bei der Eröffnungsgala am 15. März 2023 im Konzerthaus Kopenhagen (DR Koncerthuset) gezeigt wird.
CPH:DOX Eröffnungsfilm TWICE COLONIZED von Lin Alluna
Wie können wir die Geschichte des Kolonialismus umschreiben und die Lebensbedingungen indigener Völker verbessern? Diese Fragen stellen sich die Dänin Lin Alluna und die Inuit-Anwältin Aaju Peter, die sich Zeit ihres Lebens für die Rechte indigener Völker einsetzt. TWICE COLONIZED sei ein „inspirierender wie emotional kraftvoller Dokumentarfilm“, so der künstlerische Leiter von CPH:DOX, Niklas Engstrøm. „Er beschäftigt sich mit den persönlichen Folgen des Kolonialismus und gibt uns eine dringend benötigte neue Perspektive auf die Kolonialgeschichte Dänemarks, wie auch im Rest der Welt.“
Lebensräume: A SENSE OF PLACE
Zu Gast in Dänemark ist auch Wim Wenders – angekündigt sind ein Live-Talk rund um sein Oeuvre und die Präsentation des Kurzfilmprogramms A SENSE OF PLACE. Zudem ist er Executive Producer von Margaret Olins SONGS OF EARTH (im Hauptwettbewerb DOX:AWARD). Die Filme in A SENSE OF PLACE sind in enger Zusammenarbeit mit Wim Wenders und Hella Wenders sowie der Wim Wenders Foundation entstanden. Produzentin und Kuratorin ist Afsun Moshiry. Weltpremiere ist am 18. März 2023 in Kopenhagen. In dem kollektiven Werk erzählen sechs iranische Filmschaffende von Orten ihrer Heimat oder im Exil. Wie schon das gleichnamige Buch A SENSE OF PLACE, das sich dem Künstler Wim Wenders in Vorträgen, Artikeln und Interviews multiperspektivisch annähert, würdigt A SENSE OF PLACE die zentrale Bedeutung von Orten und Schauplätzen als Motor von Geschichte(n).
„Das Wort ‚Schauplatz‘ darf man bei ihm [Wenders] durchaus wörtlich nehmen, denn tatsächlich sind seine Filme immer auch Einladungen zum Schauen, Aufforderungen, Orte so lange anzusehen, bis sie ihre Geschichten preisgeben“, schreibt die Frankfurter Allgemeine Zeitung in ihrer Buch-Besprechung von 29.06.2006.
Die Kurzfilme von Mohammadreza Farzad, Shirin Barghnavard, Mina Keshavarz, Azin Faizabadi, Pooya Abbasian und Afsaneh Salari greifen den Gedanken auf, dem auch in der Wissenschaft mit dem Konzept des „Sence of Place“ Rechnung getragen wird. Sie zeigen, wie der Lebensraum durch individuelle Bezugspunkte und Bindungen (räumlich wie menschlich) unterschiedlich wahrgenommen wird. Die stilistische Bandbreite reicht von essayistischen Filmbeiträgen voller Poesie über hybride Formen an der Grenze zum Fiktionalen bzw. Experimentellen bis hin zu „klassisch“ dokumentarischen Handschriften.
Wettbewerbsfilme im Kino und online
In den fünf Wettbewerben DOX:AWARD, NEW:VISION AWARD, F:ACT AWARD, NORDIC:DOX AWARD, NEXT:WAVE AWARD sind 61 Filme vertreten, darunter 46 Weltpremieren, zehn internationale Premieren und fünf europäische. Zum ersten Mal in der Geschichte von CPH:DOX kommt ein Großteil der hier zu sehenden Filme von weiblich gelesenen Filmschaffenden (Regie), teilt das Festival mit. Die Produktionen werden in Kopenhagen und parallel an mehreren Orten landesweit gezeigt.
Vom 24. März bis 2. April können sie zudem über die Streamingplattform PARA:DOX online abgespielt werden – allerdings nur in Dänemark (Geo-Blocking).
Krisenherde im Blick
Brennpunkte wie der Iran, Russland, Belarus und China beleuchten gleich mehrere Dokumentarfilme im Programm. Auch ein Ukraine-Schwerpunkt ist dabei; u. a. wird erstmals der mit 20.000 € dotierte Special Eurimages Development Award beim CPH:FORUM (20-23.3.2023) für ein ukrainisches Projekt vergeben. Er ergänzt den langjährigen Eurimages Development Award (ebenfalls 20.000 €). Ukrainische Produktionen und Koproduktionen, die für beide Eurimages-Preise in Frage kommen, machen zwölf Prozent des diesjährigen Projektangebots, in der Auswahl von CPH:FORUM, CPH:WIP und CHANGE aus, so die Veranstalter.
Schwerpunkt: Ukraine
20 DAYS IN MARIUPOL von Mstyslav Chernov (Internationale Premiere) ist im Wettbewerb um den F:ACT AWARD zu sehen. Der Dokumentarfilm zeigt erschütternde Aufnahmen des ukrainischen Kriegsberichterstatters Mstyslav Chernov und seines Teams. Während der russischen Invasion bleiben sie in der Hafenstadt zurück. Sie dokumentieren das unvorstellbare Leid und die Zerstörung, fangen aber auch kleine Hoffnungsschimmer und Momente der Menschlichkeit ein.
Die Bilder des Massakers von Butscha haben sich ins kollektive Gedächtnis eingebrannt. Doch wie geht es für jene weiter, die überlebt haben? Diese Frage stellen Mila Teshaieva und Marcus Lenz in der ukrainisch-deutschen Koproduktion WHEN SPRING CAME TO BUCHA. Man sieht, wie die Bewohner:innen der ukrainischen Stadt Trümmer beseitigen, Häuser wieder aufbauen, Tote beerdigen und versuchen, tiefe Wunden heilen zu lassen.
Auch „Das Hamlet-Syndrom“ von Elwira Niewiera und Piotr Rosołowski, Gewinner des vom Haus des Dokumentarfilms dotierten Roman Brodmann Preises 2022 für den politischen Dokumentarfilm, wird beim CPH:DOX zu sehen sein. → zum Nachbericht der DOK Premiere von Salome Hanselmann, Haus des Dokumentarfilms
Schwerpunkt: Iran
Nach der gefeierten Weltpremiere von SIEBEN WINTER IN TEHERAN bei der Berlinale 2023 startet Steffi Niederzolls Dokumentarfilm nun die Festivaltour. Erzählt wird die Geschichte der zum Tode verurteilten Iranerin Reyhaneh Jabbari und ihres (leider vergeblichen) Kampfes um Gerechtigkeit.
→ zur ausführlichen Kritik von Astrid Beyer, Haus des Dokumentarfilms
Auch BAGHDAD ON FIRE von Karrar Al-Azzawi (Weltpremiere) erlaubt eine Innensicht und fragt: Was sind die Hoffnungen und Träume der iranischen Jugend? Menschen wie die 19-jährige Tiba und ihre Freunde kämpfen für Demokratie, Freiheit und eine Zukunft – und setzen dabei ihre Gesundheit, wenn nicht gar ihr Leben aufs Spiel.
Schwerpunkt: Russland, Belarus und China
MOTHERLAND von Alexander Mihalkovich und Hanna Badziaka (Weltpremiere) nimmt die Zuschauer:innen mit nach Belarus, wo Korruption, die Beschneidung von Grundrechten sowie eine omnipräsente Militär-Kultur an der Tagesordnung sind. Der Film zeigt die Perspektive und auch die Perspektivlosigkeit der jungen Leute im Land, das seine Nähe zu Russland nach dem Zerfall der Sowjetunion niemals aufgegeben hat.
Auch in SILENT SUN OF RUSSIA von Sybilla Tuxen (Weltpremiere) stehen junge Erwachsene im Mittelpunkt. Alyona, Alika und Katya wollen Russland verlassen. Sie träumen von Liebe, Freiheit, einem zeitgemäßen Leben ohne Restriktionen. Als Putin den Angriffskrieg auf die Ukraine startet, ist es für sie weder möglich zu bleiben noch „einfach so“ zu gehen. Eine der Frauen landet über Umwege in Georgien, eine in Spanien, eine bleibt zurück in der Heimat.
Die deutsch-niederländische Ko-Produktion TOTAL TRUST von Jialing Zhang (Weltpremiere) wirf einen Blick hinter die Fassade des Überwachungsstaats China mit seinen vielen Mechanismen der Zensur, des Monitorings und der Datenanalyse. Orwells 1984 in digitaler Form, „Big Data is watching you“.