In dem Dokumentarfilm LIEBE ANGST (Regie: Sandra Prechtel) geht es um die Vererbung von Traumata über mehrere Generationen hinweg. Das Schicksal der Shoah-Überlebenden Lore und ihrer Tochter Kim berührte das Publikum in Stuttgart und Ludwigsburg zutiefst.
Film über Mutter-Tochter-Beziehung
Als die Berliner Künstlerin Kim Seligsohn bei einer Lesung auf die Filmemacherin Sandra Prechtel zukommt und sie um ein Treffen bittet, ist es höchste Zeit: Seligsohns Mutter Lore befindet sich im Anfangsstadium einer unaufhaltsam voranschreitenden Demenz. Schnell einigen sich Prechtel und ihre Protagonistin darauf, gemeinsam einen Dokumentarfilm zu drehen. Ergebnis dieser Entscheidung ist ein sensibles Werk über eine Überlebende der Verfolgung durch die Nationalsozialisten im Dritten Reich und ihre zwei Kinder, deren Leben stark von der tiefen Verstörtheit ihrer Mutter geprägt ist.
Im Zentrum des Dokumentarfilms steht die Beziehung zwischen der Mutter Lore und ihrer Tochter Kim. „Im Laufe des Films werden wir Zeugen dieses Verhältnisses und es passiert sehr viel zwischen den beiden, was fünfzig Jahre lang nicht passiert ist“, kündigt die Filmemacherin und Autorin Sandra Prechtel vor der Vorführung im Atelier am Bollwerk in Stuttgart an.
Wettlauf gegen die Zeit
Prechtel war selbst von ihren Protagonistinnen überrascht, die die Kamera bereits am ersten Tag zu vergessen schienen: „Lore verspürte aufgrund ihrer zunehmenden Demenz einen starken Rededruck; das wussten wir aus im Vorfeld geführten Telefonaten. Viele Dinge waren ihr bereits unwiderruflich entfallen. Darum sind auch am Ende wenige ihrer tatsächlichen Erfahrungen in den Film gekommen: sie wusste es einfach nicht mehr.“
Kims Bedürfnis, Antworten auf ihre Fragen zu erhalten, wird im Film überdeutlich. Mit schmerzhafter Vehemenz fordert sie ihre Mutter unaufhörlich heraus, zeigt ihr Archivunterlagen, bohrt nach. „Kim sagte mir, dass es ihr ohne die Anwesenheit der Kamera nicht gelungen wäre, ihre Mutter mit den Wunden der Vergangenheit zu konfrontieren. Im Endeffekt wirkten die Dreharbeiten fast wie eine Art Therapie auf die beiden Frauen. Für eine Filmemacherin wie mich ist das natürlich ein großes Geschenk, wenn sich ein Konflikt direkt vor unseren Augen entfaltet“, so Prechtel.
Fingerspitzengefühl gefordert
Wie so häufig in Dokumentarfilmen über familiäre Schicksale, gibt es auch in LIEBE ANGST Momente, die nah an emotionalen Eruptionen ihrer Protagonist:innen sind. „Gab es Momente, in der Sie sich mit Ihrer Kamerafrau zurückgezogen habe, um der Familie mehr Privatsphäre zu geben?“, wollte Moderator Goggo Gensch bei der DOK Premiere im Atelier am Bollwerk in Stuttgart wissen.
„Gerade wenn es um den Bruder ging, der nach langem Aufenthalt in der Psychiatrie Suizid begangen hat, erhob Kim eine Art Anklage gegen ihre Mutter. Wir als Personen hinter der Kamera legten in solchen Momenten eine Art Zeugenschaft ab. Das war für uns eine grenzwertige Situation. Andererseits hatten wir nicht das Gefühl, Lore wisse sich nicht zur Wehr zu setzen. Wir fanden, dass Kim das Recht hat, ihre Mutter so anzugehen und zu konfrontieren, genauso wie Lore das Recht hat, davonzulaufen. Im Endeffekt haben wir die Kamera in keinem Moment ausgemacht“, antwortete Prechtel.
Drehbuch entsteht am Schneidetisch
In gut drei Jahren Drehzeit sammelten sich über 80 Stunden Material an, aus denen der 80-minütige Film zusammengestellt wurde. Im Vorfeld bereits ein Drehbuch zu verfassen, gestalte sich als schwierig, sei jedoch unerlässlich, um Gelder zu beantragen, sagt die Regieführende: „Ich bringe dann so viel von meiner Vision zu Papier, wie irgend möglich. Wenn man bereits gedreht hat, ist das natürlich leichter. Gleichzeitig bedeutet das aber, dass man in Vorleistung treten muss.“
Wirklich Form nehme das Drehbuch für Prechtel allerdings erst im Schnitt an. Das Material ist nicht in chronologischer Reihenfolge angeordnet, sondern die vielen einzelnen Geschichten wurden sorgfältig miteinander verwoben. „Dabei die Balance zu halten und so zu erzählen, dass das Publikum dabei mitgehen kann, war die eigentliche Schwierigkeit. Mein Cutter Andreas Zitzmann sagt immer so schön, es handele sich um eine eher emotionale Schnittfolge. So behält der Film trotz der inhaltlichen Schwere etwas Schwebendes.“
Tempo und Rhythmus verschaffen Verschnaufpausen
Die in den Film eingestreuten stillen Momente und Detailaufnahmen tragen zu diesem Eindruck bei. „Wir verstehen uns mittlerweile wortlos. Ihr gelingt es, tief in die Situation vor Ort einzutauchen. Auch die Momente, in denen nichts passiert, nutzt sie, um diese vielsagende Stille einzufangen, in denen das Gesagte noch nachwirkt“, lobt Rechtel ihre Kamerafrau Susanne Schüle. Diese Ruhephasen bieten den Zuschauenden Raum zum Nachdenken. Die subtile Filmmusik tut ihr übriges. Sie entstand in Zusammenarbeit mit dem in Los Angeles lebenden Komponisten Reinhold Heil, den Kim Seligsohn noch aus ihrer musikalischen Laufbahn in den 1980er Jahren im Umfeld von Nina Hagen und Spliff kennt.
Bewährtes Vorgehen führte zum Erfolg
Um die vielen Traumata ihrer Protagonist:innen zu bebildern, wählte Prechtel eine klassische dokumentarische Methode: Sie konfrontierte sie mit bedeutsamen Orten oder Dokumenten aus ihrer Vergangenheit: Lange nicht besuchte Gräber oder bisher ungesehene Fotos, Akten, Zeichnungen verstorbener Familienmitglieder.„Diese Methode funktioniert oft sehr gut“, erklärt Sandra Prechtel. „Mit Kim Seligsohn hatten wir es mit einer rampenlichtaffinen Persönlichkeit zu tun. Sie ist professionelle Schauspielerin und Sängerin; ist beispielsweise schon als Vorgruppe bei Joe Cocker aufgetreten. In der Montage haben wir einige Szenen weglassen müssen, weil Kims Präsenz zu aufgesetzt und aufdringlich wurde. Wenn sie von ihren Emotionen übermannt wurde, war das aber häufig authentisch.“
Erinnerung an Nazigräuel
Der Film ist eine Verbeugung vor den Opfern des Naziregimes und auch vor deren Kindern, die häufig stark unter den schrecklichen Erfahrungen ihrer Eltern litten. So ist Angst auch Kims ständiger Begleiter im Leben. In den Zeichnungen ihres Bruders, der viel Zeit in der Psychiatrie verbrachte, ist diese Gefühlsregung ebenfalls sehr präsent. „Ich will mit dem Film auf die himmelschreiende Ungerechtigkeit aufmerksam machen, dass diese Beschädigung sich durch das Leben der nachfolgenden Generation zieht“, so Prechtel.
Transgenerational weitergegebene Traumata
Mit dem Dokumentarfilm LIEBE ANGST erreicht Sandra Prechtel ihr erklärtes Ziel: Ihre Anwesenheit fungiert als Katalysator der emotionalen Annäherung von Lore und Kim, die es in der Form wohl sonst nie gegeben hätte. Mittlerweile ist Lore verstorben. Sandra Prechtel ist froh, sich noch mit ihr und Kim auf diese individuelle Reise in die Vergangenheit begeben zu haben.
Gleichzeitig stehen die Seligsohns stellvertretend für die vielen Familien, die bis heute an den weitreichenden Auswirkungen von in der Zeit der Shoah gemachten traumatischen Erlebnissen leiden. Ihnen verleiht Prechtel einfühlsam eine Stimme und bezeugt zudem die oft mühsam aus verschütteten Erinnerungen hervorgeholten Erfahrungen. Der letzte Satz im Film ist nicht zufällig gewählt. Er lautet: „Es ist so gewesen“.
Die DOK Premiere ist eine vom Haus des Dokumentarfilms kuratierte Filmreihe. Sie präsentiert einmal im Monat in Ludwigsburg und Stuttgart aktuelle Kinostarts von Dokumentarfilmen. Die jeweiligen Regisseur:innen sind für Werkstattgespräche mit dem Publikum vor Ort. Kuratoren sind Goggo Gensch (Stuttgart) und Kay Hoffmann (Ludwigsburg).
LIEBE ANGST (Regie: Sandra Prechtel. Produktion: Freischwimmer Film, IT WORKS! in Zusammenarbeit mit rbb und RB. Im Verleih bei Real Fiction Filmverleih) war am 18. April 2023 im Arthaus Kino Atelier am Bollwerk Stuttgart und 19. April im Caligari Kino Ludwigsburg zu sehen. Durch Abend und Talk führten Goggo Gensch und Kay Hoffmann vom Haus des Dokumentarfilms.