Deutscher Dokumentarfilmpreis 2023 – der Hauptpreis

Zwei herausragende Werke teilen sich den Deutschen Dokumentarfilmpreis 2023: KASH KASH von Lea Najjar und WHEN SPRING CAME TO BUCHA von Mila Teshaieva und Marcus Lenz. Das Preisgeld, das SWR und MFG stiften, beträgt jeweils 10.000 Euro.

Deutscher Dokumentarfilmpreis ex aequo vergeben

Wenn Filmpreise ex aequo vergeben werden, eine bedeutende Auszeichnung in Euro also nur noch halb-bedeutend ist, wünscht man sich schon mal, die Jury hätte mehr Entschlossenheit gezeigt. Die diesjährige Prämierung zum Abschluss des SWR Doku Festivals lässt uns mit der Doppelbestückung, die dort schon 2020 und 2022 vorkam, endlich einmal nicht hadern.

Über den Dächern von Beirut: KASH KASH

KASH KASH entstand als Abschlussarbeit an der Filmakademie Baden-Württemberg. Lea Najjars Langfilmdebüt führt in den Mikrokosmos junger Männer von Beirut, die auf den Dächern der von Armut geprägten muslimischen Vierteln Tauben züchten und in Wettkämpfen versuchen, sich ihre Taubenschwärme gegenseitig abzujagen. Ein leidenschaftlicher Volkssport, der an vielen Orten des Libanon verbreitet ist und Kash Hamam heißt.

Das Team hinter KASH KASH (Foto: Patricia Neligan/SWR)
v. l. n. r.: Julian Haisch (Prod.), Max Brunner (Prod.), Lea Najjar (Buch & Regie), Matthias Drescher (Prod.) © SWR/Patricia Neligan


Najjar gelingt ein eindringliches Bild einer Gesellschaft, die seit Jahrzehnten von politischen und religiösen Konflikten zerrissen wird. Gedreht wurde 2020, dem Jahr der Explosionskatastrophe im Hafen von Beirut, durch die 300.000 Menschen ihr Zuhause verloren. Die Nähe, die Lea Najjar zu ihren Protagonisten schafft, und ihr Gespür für deren Lebenssituation haben zum einen wohl damit zu tun, dass sie selbst im Libanon aufgewachsen ist. Zum anderen hatte sie mit Jonas Schneider einen großartigen Bildgestalter an ihrer Seite. Schon Schneiders im Studium entstandenen Filme, etwa „Los cuatro vientos“ oder „Youth Topia“, ließen ein Ausnahmetalent erkennen und gingen zu renommierten Festivals.

Als eine gigantische Explosion die Hauptstadt des Libanon verwüstet und den Menschen in Beirut buchstäblich das Leben um die Ohren fliegt, [überlegt das Team,] das Filmprojekt aufzugeben. „Machen wir wirklich einen Film über Tauben? Wenn die ganze Stadt explodiert? Aber nach ein paar Tagen haben die Männer mit ihren Tauben weitergespielt, und dann dachten wir, wenn sie weiterspielen, dann können wir auch weiter filmen“, sagt Lea Najjar in einem Interview.
In diesem handwerklich meisterhaften Film erzählen die Filmemacherin und ihr Editor Tobias Wilhelmer vom Überlebenskampf in Zeiten des politischen Umschwungs, vom Lachen und der Sehnsucht nach Freiheit in einer untergehenden Welt.

aus der Laudatio

Fast hätten wir im Haus des Dokumentarfilms gewettet, dass KASH KASH unseren Förderpreis gewinnt. Die Jury hat es besser gemacht und den großartigen Abschlussfilm aus Ludwigsburg mit dem Hauptpreis ausgezeichnet.

Das Grauen des Krieges: WHEN SPRING CAME TO BUCHA

Der zweite mit dem Hauptpreis ausgezeichnete Dokumentarfilm WHEN SPRING CAME TO BUCHA wurde 2022 wenige Wochen nach Beginn des Angriffskrieges gegen die Ukraine gedreht. Die Stadt in der Region von Kyiv war 35 Tage lang Schauplatz heftiger Kämpfe zwischen russischen und ukrainischen Truppen. Als die Russen abzogen, wurden in dem Gebiet Hunderte getöteter Zivilisten gefunden, auf den Straßen liegend, teils mit Folterspuren und auf dem Rücken gefesselten Händen. Die in Berlin lebenden Filmschaffenden Mila Teshaieva (Regie) und Marcus Lenz (Ko-Regie und Kamera) brachen sofort in das zerstörte Butscha auf und dokumentierten die Räumarbeiten der Nothelfer:innen.

Das Team hinter WHEN SPRING CAME TO BUCHA (Foto: Patricia Neligan/SWR)
Mila Teshaieva (Regie) und Marcus Lenz (Ko-Regie und Kamera) © SWR/Patricia Neligan

https://youtu.be/pp8NDQpvx3AIn ihrem Film treffen sie auf Menschen, die über Wochen versteckt in Kellern oder beschädigten Gebäuden hausen mussten, selbst alles verloren haben, aber in einer großen gemeinsamen Kraftanstrengung gegen Trümmerberge, Chaos, Mangel, Trauer, Ungewissheit und Zukunftsangst ankämpfen.
Auch hier eine hervorragende und dem Sujet respektvoll begegnende Kamera. Zeit, ein ästhetisches Konzept zu entwickeln, hätten sie nicht gehabt, berichten beide, und doch hat ihr Film vom ersten Bild bis zur Schlusssequenz eine einheitliche und klare Bildsprache.

Der observierende Dokumentarfilm „When Spring Came to Bucha“ beschäftigt sich nicht mit Kampfhandlungen in den Schützengräben oder Feuergefechten zwischen Panzern. Und trotzdem kommt er dem Angriffskrieg in der Ukraine so nah wie nur möglich. Er konzentriert sich auf normale Menschen und deren Anstrengung zur Rückkehr in ein normales Leben ohne ständige Todesangst. Mila Teshaieva und Marcus Lenz haben sich für eine intensive Auseinandersetzung mit den Leuten vor Ort entschieden. Sie zeigen eine Stadt bei der Arbeit, wir erleben Menschen mit Tatendrang und hoher Widerstandsfähigkeit. Entstanden ist ein sehr bewegender, aktueller und wichtiger Film über die Einwohner von Butscha, die darum kämpfen, nach dem Unfassbaren wieder ein Gefühl von Normalität zu erlangen. In diesem handwerklich meisterhaften Film erzählen die Filmemacherin und ihr Editor Tobias Wilhelmer vom Überlebenskampf in Zeiten des politischen Umschwungs, vom Lachen und der Sehnsucht nach Freiheit in einer untergehenden Welt.

aus der Laudatio

Ferner ausgezeichnet wurden:

  • Ole Jacobs und Arne Büttner für ihr Langfilmdebüt „Nasim“ mit dem HDF-Förderpreis
  • Wim Wenders mit dem Ehrenpreis fürs Lebenswerk
  • Lutz Pehnert für seinen Film „Bettina“ mit dem Musikpreis des SWR
  • Kristof Gerega für „Generation Euromaidan“ mit dem Publikumspreis der SWR Landesschau, gestiftet von der LFK und der MFG
    (noch bis 14.11.23 in der Mediathek verfügbar)

 Die Aufzeichnung der Preisverleihung ist ab 5. Juli 2023 auf der Website des SWR Doku Festival abrufbar.