So war die DOK Premiere von THOMAS SCHÜTTE – ICH BIN NICHT ALLEIN

Ein gutes Jahrzehnt nach ihrem Dokumentarfilm „Gerhard Richter – Painting“ hat sich Regisseurin Corinna Belz den Bildhauer und Zeichner Thomas Schütte vorgenommen. Über zwei Jahre begleitete sie ihn mit der Kamera – im Atelier, in Werkstätten und Ausstellungen.

Aus Thomas Schüttes Archiv – Der überlebte Tod

Thomas Schüttes Werk ist so facettenreich, dass schon dies für ein filmisches Porträt Risiken birgt. Wo anfangen? Bei den Zeichnungen, Aquarellen, Fotografien, Architekturmodellen, den kleinen oder den monumentalen Skulpturen? Zum Glück hält Corinna Belz nichts von biografisch-chronologischen Abrissen. Ihr Film beginnt mit der Rückschau auf einen angekündigten, nicht eingetroffenen Tod. Mit 26 Jahren entwirft der 1954 geborene Schütte eine Mappe, die Zeichnungen für seinen Grabstein enthält. Auf Blatt eins legt er sein Todesdatum fest: 25.3.1996. „Ich dachte mir, wenn ich schon ein Geburtsdatum habe, muss ich auch ein Enddatum festlegen“, sagt der Künstler, der in diesem Porträt noch oft einen gewissen Sinn für Akribie offenbaren wird. Dann zeigt er Blatt für Blatt wachsende Entwürfe, vom 80 Zentimeter hohen, über ein mannshohes bis zum 15 Meter hohen Grabstein-Modell.

Von der Figurine zur Riesenplastik – Dokumentarische Werkbeobachtung

Überlebensgroß – so kennen wir die Skulpturen von Thomas Schütte. Corinna Belz widmet den Haupterzählstrang ihres Films der Entstehung der Bronzestatue „Nixe“, die 2021 Mittelpunkt einer Schütte-Ausstellung in der New Yorker Galerie Peter Freeman war. Die Arbeit an der gigantischen Meerjungfrau begann 2020 in der Düsseldorfer Kunstgießerei Kayser. Die Regisseurin stand am Anfang ihres Drehs mit Schütte. Der Leiter der Gießerei zeigt dem Bildhauer ein vor langer Zeit gefertigtes, inzwischen vergessenes Bronzemodell, keine 40 Zentimeter hoch und nach dem Guss weder von Stützen befreit noch abgeschliffen. „Ich brauche händeringend ein Herbstprogramm“, bemerkt der rauchend auf- und abgehende Künstler.




Nach der Behandlung mit dem Sandstrahler wird der unförmige Bronzeguss erkennbar: „Eine Meerjungfrau! Und dann sieben Meter hoch vor die Deutsche Bank – wenn es die nächstes Jahr noch gibt. […] Mach mir doch mal ein Wachsmodell.“ Ab jetzt beginnt im Film der spannende Prozess etlicher Positiv-Negativ-Abformungen, den schon die Bildhauer der Renaissance anwandten, nur eben nicht mithilfe der computergestützten Techniken von heute, im Prinzip aber genauso. Am Ende – im Film sitzt die Szene am Anfang – wird die Riesenplastik in New York angeliefert, zwar keine sieben, aber immerhin über drei Meter hoch. Schließlich sollte seine „Nixe“, so Schütte ganz pragmatisch, durch die Tür der Freeman-Galerie passen.

Ton ist therapeutisch – Werkgruppe „Köpfe“

In einer parallelen Werkbeobachtung folgen wir der Entstehung von Arbeiten mit Ton: „Köpfe“. Seine ersten Köpfe knetete Schütte um 1982. Das Studium an der Kunstakademie Düsseldorf lag hinter ihm. Die von Fluxus, Aktions- und Konzeptkunst geprägten Siebziger bezeichnet er heute als Zeit, in der „man ja nichts machen durfte“, zumindest nichts Gegenständliches. Auf die Frage, wo er das Modellieren mit Ton erlernt habe, hören wir: „Nirgendwo. In der Psychiatrie. Basteltherapie. In Grafenberg. Da kriegt man ein Eimerchen Ton und so ein bisschen Farbe und dann muss man sich beschäftigen. Da gibt es zwei Raucherpausen und nach 50 Minuten ist die Therapiesitzung beendet. Da habe ich meine ersten Figuren und Köpfe geknetet. […] Ton ist sehr therapeutisch, muss ich sagen.“ 

DOK Premiere Thomas Schütte im Delphi Arthaus Kino Stuttgart
Filmstill Thomas Schütte - Ich bin nicht allein
Moderator Goggo Gensch und Regisseurin Corinna Belz bei der DOK Premiere im Delphi Arthauskino in Stuttgart veranstaltet vom Haus des Dokumentarfilms.
© HDF/Günther Ahner

„Die Kunst ist für jeden Künstler auch immer ein Gegenüber, ein forderndes Gegenüber. Und wenn man schon so lange arbeitet wie Schütte, ist er darin, glaube ich, auch vollkommen aufgehoben, in diesem Machen, dieser Art von Konzentration und wie die Figur antwortet.“

Corinna Belz im Publikumsgespräch

In ruhigen Großaufnahmen sehen wir Schütte beidhändig und symmetrisch modellierend dem Ton eine Physiognomie einarbeiten. Hin und wieder erzählt er etwas, eher beiläufig. Corinna Belz führt keine gesetzten Interviews, die Kamera bleibt nah am Schaffensprozess. „Mich fasziniert das, auch weil ich denke, in diesem Tun erzählt man ja viel mehr über jemanden, als wenn er sich erklären muss. Ich finde auch, dass man den Künstler gar nicht erst verpflichten darf, sich selbst zu erklären, das ist nicht sein Job. Man muss andere Formen finden.“

Filmstill Thomas Schütte, Modellfigur

„Ich bin nicht allein“ – Arbeiten im Kollektiv

Großen Raum gibt die Regisseurin Schüttes Beziehungen zu seinen Werkstätten und Helfern, mit denen er oft schon seit Jahrzehnten zusammenarbeitet. Ob in der Düsseldorfer Kunstgießerei Kayser, der Kölner Keramikwerkstatt Niels Dietrich oder der venezianischen Glasbläserei Berengo, in atmosphärischen Bildern verfolgt die Kamera Schritt für Schritt jenen Anteil an der Kunst, der professionelles Handwerk ist.

Regisseurin Corinna Belz bei der DOK Premiere Thomas Schütte

„Was mich so fasziniert, ist die Materialkenntnis dieser Leute, die haben ja keinen Plan, keine Zeichnung oder Gebrauchsanweisung da liegen“, erklärt Corinna Belz. „Allein die Szene, wenn [der Helfer] Sergej die „Nixe“ zusammenschweißt, da denkt man, Moment, hinten ist doch noch so ein Spalt, das muss neu gegossen werden, das passt ja alles nicht zusammen. Und dann umkreist der das, mit diesem Blick, läuft immer drum herum, macht mit dem Schweißgerät ein paar Abnäher rein, dann muss er den Oberkörper nach hinten neigen, damit das überhaupt zusammenpasst. Und das macht er alles so, wie er es eben macht! Da kommt nicht Schütte vorbei und sagt, das muss aber ganz anders geneigt sein. Das ist Vertrauen! Wichtig ist auch, dass immer nur ein Arbeiter die ganze Figur macht. Und der hat dann das Augenmaß, die Figur in ihrer endgültigen Form aufzurichten.“

Meisterhaft – Filmische Annäherung an Kunst

Corinna Belz‘ neuer Kinofilm ist ein Genuss, nicht nur für Fans von Thomas Schütte, und ein wundervolles Beispiel dafür, was Dokumentarfilm gegenüber journalistischen Künstlerporträts vermag, etwa in Kulturmagazinen wie „ttt“ oder „Kulturzeit“. Wie schon bei „Gerhard Richter – Painting“ lässt die Regisseurin uns eintreten in die sonst verschlossene Atelierwelt und in die Gedankenwelt des Künstlers. Dass es dabei immer auch um Vertrauen und Respekt geht, spürt man in ihren Filmen ab der ersten Minute. Und genauso genießt man es, sich von einer Autorin führen zu lassen, deren filmische Handschrift sowohl auf profunder Kenntnis ihres Gegenstandes als auch auf absoluter Offenheit und einer ungeheuren Investition an Zeit und visuellen Ideen beruht.

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Die DOK Premiere ist eine vom Haus des Dokumentarfilms kuratierte Filmreihe. Sie präsentiert einmal im Monat in Stuttgart und Ludwigsburg aktuelle Kinostarts von Dokumentarfilmen. Die jeweiligen Regisseur:innen sind für Werkstattgespräche mit dem Publikum vor Ort. Kuratoren sind Goggo Gensch (Stuttgart) und Kay Hoffmann (Ludwigsburg).

THOMAS SCHÜTTE – ICH BIN NICHT ALLEIN (Regie: Corinna Belz). Produktion: Corinna Belz Filmproduktion. Real Fiction Filmverleih, ZDF/Arte, Redaktion: Kathrin Brinkmann. Mit Unterstützung der Film- und Medienstiftung NRW. War am 11. Juli 2023 im Delphi Arthaus Kino Stuttgart und am 12. Juli 2023 im Caligari Kino Ludwigsburg zu sehen. Durch Abend und Talk führten Goggo Gensch und Kay Hoffmann vom Haus des Dokumentarfilms.