So war die DOK Premiere von VERGISS MEYN NICHT

Der Dokumentarfilm über Steffen Meyn und dessen Aufnahmen der Klimaproteste im Hambacher Forst beeindruckten das Publikum in Ludwigsburg und Stuttgart. Neben Regisseurin Fabiana Fragale war auch eine der Protagonist:innen zum Filmgespräch vor Ort.

Ein Vermächtnis in 360-Grad Bildern

Der Filmstudent Steffen Meyn begleitete die Klimaproteste rund um den Hambacher Wald zwei Jahre mit einer 360-Grad Kamera, die er an einem Helm befestigt auf dem Kopf trug. Die entstandenen Aufnahmen erzählen von unberührter Natur umgeben von riesigen Bäumen und einer Gemeinschaft aus Aktivist:innen, die den Schaufelradbaggern des Energiekonzerns RWE die Stirn bietet. Er freundet sich mit ihnen an, lebt in Baumhäusern 20 Meter hoch über dem Waldboden. Es sind besondere Bilder aus schwindelerregenden Perspektiven, die man so im Kino selten sieht.

Aus dem gedrehten Material soll später ein VR-Film entstehen, der Außenstehenden Natur und Protestbewegung näherbringt. Doch leider kommt es nicht dazu. Am 19. September 2018 stürzt Meyn während der Räumung des Waldes von einer Hängebrücke in den Tod. Seine Helmkamera läuft weiter.




Der Wunsch der Eltern

Die Videoaufzeichnungen des Verunglückten werden anfänglich von Polizei und Staatsanwaltschaft beschlagnahmt. Später erhalten seine Eltern die Videodateien zurück und bitten Fabiana Fragale, Kilian Kuhlendahl und Jens Mühlhoff, die gemeinsam mit ihrem Sohn an der Kölner Kunsthochschule für Medien studierten, einen Film daraus zu machen.

„Seine Eltern haben sich gewünscht, dass mit dem Material etwas passiert, und haben uns dann sehr viel Vertrauen entgegengebracht und uns die Rechte daran übergegeben […] Wir haben uns dann zusammengesetzt und viel darüber gesprochen, was Steffen gewollt hätte […] Und dann haben wir beschlossen, wir machen nicht Steffens Projekt, denn das können wir einfach nicht. Wir machen vielmehr unser eigenes Projekt und versuchen in Steffens Sinne viele Leute zu erreichen. Er wollte immer einen Dialog schaffen zwischen den Menschen im Wald und den Mittebürger:innen“

Fabiana Fragale

Die entfesselte Kamera

Eine der eindrücklichsten Szenen des Films sind wohl die Bilder von Meyns Helmkamera, die nach dem Unglück weiter aufzeichnet und die Geschichte ihres Besitzers weitererzählt. Man schaut dabei zu, wie die Polizei die Kamera auf dem Waldboden entdeckt und in eine Plastiktüte steckt, während diese auch auf dem Polizeirevier widerspenstig das Geschehen dokumentiert. So gelingen unfassbare Filmsequenzen, die es eigentlich gar nicht geben kann. 

Die Polizei findet Meyns Kamera
Fabiana Fragale mit Kay Hoffmann

„Ein Polizist teilte Steffens Mutter, Elisabeth Meyn, mit, dass keine Daten gelöscht worden sind […] Wir wussten aber, da uns relativ schnell nach dem Unfall von der Polizei eine DVD ausgehändigt wurde, auf der die Sekunden des Sturzes zu sehen sind, dass die Kamera den Tod mit aufgezeichnet hat. In den Metadaten war sichtbar, dass Daten entfernt worden waren und letztlich haben wir mit einer Firma in Spanien diese Daten retten können.“

Herausforderung 360-Grad Aufnahme

Eine große Schwierigkeit sei zusätzlich die Arbeit mit den 360-Grad Aufzeichnungen gewesen, erklärt die Regisseurin. Das Fisheye-Objektiv, das solche Bilder ermöglicht, liefert sehr weitwinklige Einstellungen, die im Schnitt und in der Postproduktion umfangreich bearbeitet werden müssen. Das Regie-Trio muss besondere Wege gehen, um daraus einen Film zu machen.

„Wir haben das Framing, also die Auswahl der Bildausschnitte, während des Schnittprozess gemacht und das war eine große Herausforderung […] Eigentlich ein Ping-Pong zwischen zwei Schnitträumen. In einem Raum saß unser Editor und hat festgelegt, welche Einstellungen gebraucht werden. Im anderen Schnittraum wurden diese Bildausschnitte dann nachgebaut. […] Wir haben auch keine Postproduktionsfirma gefunden, die uns aus dem 360-Grad Bild ein 16:9 – Bild erstellen konnte. Man sagte uns immer, das sei Quatsch. Jens Mühlhof hat dann einen Weg gefunden das Material zu stabilisieren, so dass man es im Kino anschauen kann, ohne dass einem schlecht wird“

Die Stimmen der Aktivist:innen

Die drei Regisseur:innen kombinieren Meyns Aufzeichnungen mit zusätzlich gedrehtem Material, das vor allem aus Interviews mit den Bewohner:innen des Hambacher Waldes besteht. In Gesprächen setzen sich diese mit dem verunglückten Filmemacher auseinander und sprechen über ihren Wunsch nach einem alternativen Gesellschaftsmodell fernab des Kapitalismus.

Protagonistin Alaska beim Filmgespräch in Stuttgart

„Wir haben angefangen das Material zu sichten und haben dann versucht die Menschen darin zu finden. Wir wussten auch erst gar nicht, ob die Leute im Film einen Platz haben würden. Es ging uns darum die Menschen kennenzulernen, die Steffen kannte und die Beziehungen, die er im Wald hatte, zu verstehen.“, so Fragale.

Beim Filmgespräch in Stuttgart ist Alaska, eine der Aktivist:innen und Protagonistin des Films, persönlich vor Ort und erklärt, wie sie Meyn erlebte:

„Für mich war er von Anfang an als Journalist da, mit Presseausweis und gelber Weste, aber ich erinnere mich auch, dass er bei einem von uns organisierten Waldspaziergang total begeistert war und danach seine Eltern mitgeschleppt hat. Und ich glaube, das hat ihn ausgemacht, die Begeisterung für Dinge. Ich finde, er hatte ein sehr ehrliches Interesse für die Denkwerkstatt, die der Wald eben war und die Frage danach, wie wir in Zukunft leben wollen.“

Auf Augenhöhe mit der Protestbewegung

Die persönlichen Einblicke in die Gedankenwelt der Aktivist:innen machen die große Stärke von „Vergiss Meyn nicht“ aus. Vor allem, da die mediale Berichterstattung zum Hambacher Forst in den letzten Jahren in erster Linie die Räumung des besetzten Gebietes thematisierte. Den Filmemacher:innen gelingt somit das, was auch Meyn wollte. Sie begegnen den Menschen im Wald auf Augenhöhe, hören ihnen zu und schlagen so eine Brücke zwischen Gesellschaft und Protestbewegung.

 

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Die DOK Premiere ist eine vom Haus des Dokumentarfilms kuratierte Filmreihe. Sie präsentiert einmal im Monat in Stuttgart und Ludwigsburg aktuelle Kinostarts von Dokumentarfilmen. Die jeweiligen Regisseur:innen sind für Werkstattgespräche mit dem Publikum vor Ort. Kuratoren sind Goggo Gensch (Stuttgart) und Kay Hoffmann (Ludwigsburg).

VERGISS MEYN NICHT (Regie: Fabiana Fragale, Kilian Kuhlendahl, Jens Mühlhoff); Produktion: Made in Germany Filmproduktion, Produzent:innen: Melanie Andernach, Knut Losen; Verleih: W-Film; gefördert von Film- und Medienstiftung NRW, Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien, MOIN Filmföderung Hamburg Schleswig-Holstein. War am 26. September 2023 im Atelier am Bollwerk in Stuttgart und am 27. September 2023 im Caligari Kino Ludwigsburg zu sehen. Durch Abend und Talk führten Goggo Gensch und Kay Hoffmann vom Haus des Dokumentarfilms.