EINHUNDERTVIER: Goldene Taube für Film über Seenotrettung
In EINHUNDERTVIER dokumentiert Jonathan Schörnig eine Seenotrettung in Echtzeit und zeigt eindrücklich die Arbeit der Mission Lifeline. Bei DOK Leipzig 2023 wird er vier Mal ausgezeichnet, u. a. mit der Goldenen Taube im Deutschen Wettbewerb.
Humanitäres Statement
Der Streit um die europäische Asylreform und die Forderung nach schärferen EU-Außengrenzen lassen die Menschen, die täglich auf dem Mittelmeer ihr Leben riskieren, zunehmend in den Hintergrund rücken. Regisseur Jonathan Schörnig setzt der politischen Debatte mit seinem ersten langen Dokumentarfilm EINHUNDERTVIER ein starkes humanitäres Statement entgegen. Aus verschiedenen Blickwinkeln zeigt er, was es bedeutet, Schiffbrüchige im Mittelmeer von einem überfüllten, sinkenden Schlauchboot zu retten. Das Auftauchen der libyschen Küstenwache und die Suche nach einem sicheren Hafen erschweren die Situation für das Evakuierungsteam zusätzlich.
Thriller aus unterschiedlichen Blickwinkeln
Die große Stärke von EINHUNDERTVIER sind die verschiedenen, auf einem Split Screen angeordneten Kameraperspektiven. Dieses Seherlebnis, das man sonst eher von Videoinstallationen kennt, gibt den Zuschauenden die Möglichkeit selbst zu entscheiden, was sie sehen oder vielleicht auch parallel beobachten möchten. In Echtzeit erhält man so seltene Einblicke in die Arbeit eines Rettungsteams. Mit unzähligen Handgriffen werden Schwimmwesten verteilt, Menschen evakuiert und Funksprüche abgegeben. Obwohl alle Crew-Mitglieder darum bemüht sind Ruhe zu bewahren, ist die Anspannung bis in den Kinosaal spürbar.
100 Menschen in 48 Stunden
Beim Filmscreening im Rahmen von DOK Leipzig (13.10.23) ist Clara Richter, eine der Protagonist:innen und Seenotretterin der Mission Lifeline, vor Ort. Im anschließenden Filmgespräch spricht sie über ihre Arbeit und die Fluchtroute über das Mittelmeer, die nicht umsonst als die gefährlichste der Welt bezeichnet wird.
„Wenn man rechnet, dass auf jedem Schlauchboot ungefähr hundert Menschen sind, haben wir einhundert Menschen innerhalb achtundvierzig Stunden gerettet. Zeitgleich sind um uns herum etwa dreihundert Menschen entweder zurück nach Libyen geführt worden oder ertrunken.“
Kein Essen und wenig Platz
Obwohl die „Eleonore“, das Schiff des Rettungsteams, komplett überladen und die Situation an Board somit prekär ist, erhält die Crew acht Tage lang keine Anlegeerlaubnis in einem europäischen Hafen. Jonathan Schörnig erzählt von diesem Stresstest in nur wenigen Bildern, um seine Protagonist:innen zu schützen. Clara Richter ergänzt, was im Film nur angedeutet wird:
Credits: Regie, Kamera, Schnitt: Jonathan Schörnig. Zweite Kamera: Johannes Filous. Schnittassistenz: Moritz Petzold. Produktion: U.N TV-Produktion, Uwe Nitschke. Ko-Produzent: Adrian Then.
„Ich habe gekocht und da es gab den Punkt, an dem ich wusste: ‚Ich habe noch Proviant für eine Mahlzeit und nicht mehr.‘ Unsere Kollegen von Mission Lifeline wollten uns Essen bringen – das wurde von Malta immer abgelehnt. Wir haben irgendwann gesagt: ‚Wenn ihr uns die Essenslieferung nicht ermöglicht, fahren wir in den Hafen ein […]‘ Die Menschen auf dem Schiff haben uns vertraut, aber ohne Essen kann die Stimmung sehr schnell kippen. Und wenn man acht Tage dasitzt und einen halben Quadratmeter Platz hat, liegen die Nerven einfach blank.
Und dann kam der Sturm. Wir haben die Menschen an Deck in unsere Kabine gebracht, alle waren seekrank. Das war der Punkt, an dem wir gesagt haben, es geht nicht mehr. Wir wussten auch die ganze Nacht über nicht, ob morgens noch alle Menschen an Bord wären.“
Unmittelbarkeit, die Bewusstsein schafft
EINHUNDERTVIER ist ein Film, der durch seine Unmittelbarkeit überzeugt und auch nach dem Kinobesuch lange nachwirkt. Durch die Form der Echtzeitdokumentation fühlt man sich dem Abgebildeten besonders nah und wird fast selbst zum Teil der Schiffs-Crew. Gleichzeitig bleibt man auch ratlos zurück. Das Sterben an den europäischen Außengrenzen wird weitergehen und die Arbeit von NGO´s zunehmend schwieriger. Ein Film kann für all das keine Lösung bieten, aber vielleicht ein zunehmendes Bewusstsein schaffen. Genau das gelingt Schörnig mit EINHUNDERTVIER eindrücklich.
Im Gespräch mit Jonathan Schörnig
Jonathan Schörnig studiert an der Bauhausuniversität Weimar und begann mit der Arbeit an EINHUNDERTVIER im Rahmen eines Semesterprojekts. Die Dreharbeiten fanden allerdings bereits vor seinem Studium statt. Christine Schäfer vom Haus des Dokumentarfilms hat mit ihm bei DOK Leipzig 2023 über die Entwicklung des Films und die schwierigen Drehbedingungen auf dem Rettungsschiff gesprochen.
https://vimeo.com/877822511