So war die DOK Premiere von JEDER SCHREIBT FÜR SICH ALLEIN

Dominik Graf thematisiert in seinem Film JEDER SCHREIBT FÜR SICH ALLEIN das Verhalten deutscher Literat:innen während der NS-Zeit. Vorlage ist das gleichnamige Sachbuch von Anatol Regnier. Am 22.8.23 waren beide bei der ausverkauften DOK Premiere in Stuttgart zu Gast.

Lug, Trug, Selbstbetrug?

Der preisgekrönte Regisseur Dominik Graf las das Buch JEDER SCHREIBT FÜR SICH ALLEIN von Anatol Regnier innerhalb von zwei Tagen: „Ich war völlig geflasht. Das war für mich ein apokalyptisches Szenario mit einer Unzahl von Figuren. Zwischen 1933 und 1945 hat jeder versucht, seine Schäflein irgendwie ins Trockene zu bringen. Viele haben sich komplett geirrt, einige haben sich auf ihre Weise ehrenvoll verhalten. Diese Gemengelange ist sehr kompliziert und wahnsinnig spannend.“

Eine Frage des geschichtlichen Standpunkts

Wie haben sich deutsche Autor:innen in der Zeit zwischen Machtergreifung und Kriegsende verhalten? Opportunist, Mitläufer, Duckmäuser, Karrierist, Nazi: So lauten die Vorwürfe der nachfolgenden Generationen. Rückblickend zu urteilen sei jedoch leicht. „1933 hatten die Menschen ja noch keine Ahnung, was das Ende sein würde“, findet Regnier.

Insgesamt dreieinhalb Jahre arbeitete Anatol Regnier an dem Buch, dass sich den Biografien von circa 30 deutschen Literat:innen widmet. Ausgangspunkt für Regniers Recherchen war die Mitgliederliste der 1926 gegründeten Literaturklasse in der Preußischen Akademie der Künste. Darunter waren Hans Fallada, Erich Kästner und Gottfried Benn, die auch heute noch einen hohen Bekanntheitsgrad genießen. Behandelt werden auch weniger geläufige Namen wie Agnes Miegel, Ina Seidel, Hanns Johst und Will Vesper. Für private Briefwechsel recherchierte Regnier vorrangig im Deutschen Literaturarchiv Marbach, das er als ein Wunderwerk bezeichnet: „Ein Schatz von Millionen von Dokumenten. Verwaltet von unkomplizierten, kompetenten, freundlichen Leuten.“




Gratwanderung entlang der Schattenseiten menschlichen Handelns

Für Regnier tragen Künstler:innen Verantwortung. Im Hinblick auf den Zeitgeist ihrer Epoche seien sie interessante Persönlichkeiten, da sie mit ihren Werken immer ein größeres Publikum erreichen wollen. Eine der wenigen Frauen, die er in seine Betrachtungen mit aufnahm, ist die mittlerweile weitestgehend in Vergessenheit geratene Bestseller-Autorin Ina Seidel. Er bezeichnet sie als „eine hochinteressante Figur, aber sie hatte einen sehr schlechten Ruf, weil sie 1939 zu Hitlers 50. Geburtstag eine Huldigung an ihn geschrieben hat, die tatsächlich schwer zu ertragen ist. Betrachtet man allerdings ihr gesamtes Werk, merkt man, dass sie keine Nazi-Dichterin war. Sie war vielmehr eine gläubige Christin. Ihr Mann war Pfarrer. Und das war eigentlich auch meine Idee bei dem Buch: Herauszufinden, wie die Menschen ticken“

DOK Premiere Jeder schreibt für sich allein, Dominik Graf, Anatol Regnier, Goggo Gensch

Ambivalente Figuren

Gemeinsam mit Ko-Regisseur Felix von Boehm hat Dominik Graf versucht, dem Panoptikum von über 30 Figuren aus Regniers Buch Herr zu werden: 

Mit Felix habe ich lange darüber nachgedacht, wie wir es schaffen, der Wucht von Anatols Buch zu entsprechen. (…) Anders als Anatol sind wir nicht chronologisch vorgegangen, sondern haben bewusst bekannte Figuren gewählt, die für eine bestimmte Strategie und Taktik im Umgang mit dem Totalitarismus standen. Jeder für sich, jeder hat eine andere Art und Weise, wie er oder sie sich weggeduckt oder versteckt hat oder meinte sich versteckt zu haben.

Der Film braucht Geduld

Sowohl Buch als auch Film zeichnen anhand verschiedener Lebensläufe deutscher Literat:innen ein Bild davon, wie sich totalitärer politischer Druck auf Individuen auswirkt. Den Anfang macht dabei die Biografie von Gottfried Benn, der eine führende Position an der der Preußischen Akademie der Künste (Sektion Dichtkunst) innehatte. Er sprach sich nach Hitlers „Machtergreifung“ 1933 für den Nationalsozialismus ein. Dieser Zeitpunkt ist in gewisser Weise geschickt, weil so einerseits die Kulturpolitik der Nazis und gleichzeitig das sich verschärfende soziale Klima verdeutlicht wird. Dieses Vorgehen hilft beim Verständnis späterer Konflikte mit prominenten Figuren wie Thomas Mann.

Zur Illustration der persönlichen Geschichten werden vorrangig nicht für die Veröffentlichung bestimmte Zeitdokumente wie private Briefwechsel und Tagebücher zurate gezogen. Zusätzlich kommentieren und interpretieren eine Reihe Literaturkenner:innen den Inhalt des Buchs wie Fußnoten. Im Endeffekt kommt der Film bei knapp zehn Personen noch immer auf stolze 169 Minuten dicht mit Informationen gespickte Laufzeit. Die Konzentration aufs Wesentliche fällt nicht immer leicht, da die Bebilderung der Informationen mit ihren vielen kleinen Quadraten und Bildchen, die oft nicht einmal die gesamte Leinwand ausfüllen, manchmal etwas ungelenk wirkt. Trotzdem wird insgesamt deutlich: Es war unmöglich, sich nicht zum allumfassenden System des Nationalsozialismus zu verhalten.

Filmstill_JSFSA_Regnier_
Filmstill_JSFSA_Regnier_

Die ungeheure Macht der Propaganda

Dominik Graf weist im Publikumsgespräch darauf hin, dass der Blick auf die NS-Zeit selbst heute immer noch undifferenziert sei: „Als wären die Leute damals alle böse auf die Welt gekommen, wie der Teufel in amerikanischen Horrorfilmen. Das ist aber eine künstliche Abtrennung. Als hätte damals ein Typus Mensch existiert, der asozial sei und den es heute nicht mehr so geben könne.“ Betrachtet man die weiterführenden Lebenswege der Literat:innen, bricht das einerseits das Denken in stark moralisch aufgeladenen Kategorien auf. Andererseits stößt es ein Nachdenken über die eigene Haltung an. 

„Ich sage immer: Waren alle einverstanden? Nein, bestimmt nicht. Aber die Leute im Dritten Reich hatten mächtige Angst sich zu äußern, und deswegen kann man das nicht einfach in eine Schublade tun. Mich hat das Wesen der Diktatur interessiert. Das muss man sich mal vor Augen führen: Selbst im April 1945 hielt Goebbels noch Reden im Radio, die die Bevölkerung an den Sieg glauben ließen. Diese Mechanismen zu durchschauen war Ziel des Buches und Ziel des Films. Daraus kann man sich heute ziehen, was man wichtig findet.“

Anatol Regnier im Publikumsgespräch

Polarisierte Diskussion

Grafs Anliegen war es, die Diktatur aus ihrem Maschinenraum heraus zu beleuchten. Damit trifft er einen Nerv, wie die anschließende Diskussion mit dem Publikum zeigte. Besonders der letzte argumentative Bogen, in dem eine direkte Verbindung von der nicht umfassen aufgearbeiteten Nazivergangenheit der Elterngeneration zur extremistischen RAF gezogen wird, ließ eine hitzige Debatte über politischen Rechts- und Linksextremismus entstehen, die den Gegenstand des Abends zeitweise aus den Augen verlor. Im Großen und Ganzen waren die Reaktionen nachdenklich und besorgt in Bezug auf die aktuelle politische Lage Deutschlands. Eine Zuschauerin sagt: „Es ist nur menschlich, dass wir alle nicht mutig sind, aber viel ertragen, wie es auch im Film heißt. Aber dieses ‚Ertragen‘ müssen wir reduzieren. Alle, jeder einzelne.“







Moderator Goggo Gensch mit Regisseur Dominik Graf und Buchautor Anatol Regnier bei der DOK Premiere im ausverkauften Atelier am Bollwerk in Stuttgart. Veranstaltet vom Haus des Dokumentarfilms.
© HDF/Günther Ahner

Die DOK Premiere ist eine vom Haus des Dokumentarfilms kuratierte Filmreihe. Sie präsentiert einmal im Monat in Stuttgart und Ludwigsburg aktuelle Kinostarts von Dokumentarfilmen. Die jeweiligen Regisseur:innen sind für Werkstattgespräche mit dem Publikum vor Ort. Kuratoren sind Goggo Gensch (Stuttgart) und Kay Hoffmann (Ludwigsburg).

JEDER SCHREIBT FÜR SICH ALLEIN von Dominik Graf. Eine LUPA FILM Produktion in Koproduktion mit RBB in Zusammenarbeit mit ARTE Produzent: Felix von Boehm, Redaktion: Rolf Bergmann (RBB), Carolin Mayer (RBB/ARTE)
Verleih: Piffl Medien. Der Dokumentarfilm war am 22. August 2023 im Atelier am Bollwerk Stuttgart. Durch Abend und Talk führte Goggo Gensch vom Haus des Dokumentarfilms.