Interview mit Marita Stocker: ROCK CHICKS, die Queens des Rock
Natürlich kennt man Elvis, Jerry Lee Lewis und Jonny Cash. Doch was ist mit Sister Rosetta Tharpe? Big Mama Thornton? Oder Rosie Flores? Diese und weitere Pionierinnen des Rock ‘n’ Roll und Rockabilly haben das Genre entscheidend mitgeprägt – trotzdem fliegen sie weitgehend unter dem öffentlichen Radar. Marita Stocker widmet ihnen und ausgewählten musikalischen Vertreterinnen der zweiten und dritten Generation ihr mitreißendes Porträt ROCK CHICKS – I AM NOT FEMALE TO YOU.
Dokumentarfilm über die Queens of Rock ‘n’ Roll
„Was, wenn der König des Rock ‘n’ Roll in Wirklichkeit eine Königin wäre?“, fragt die Ko-Produktion von ACCENTUS Music mit ZDF und Arte völlig zu Recht. ROCK CHICKS gibt Artists wie Linda Gail Lewis, Kristin Hersh, Kathy Valentine von den Go-Go‘s, Honeychild Coleman und nicht zuletzt Suzie Quatro eine Bühne. Geschickt verwoben mit Archiv-Aufnahmen (u. a. Sister Rosetta Tharpe, Big Mama Thornton) und Expertinnen-Stimmen legt Marita Stocker das Augenmerk auf ein allzu oft ignoriertes Kapitel der Musikgeschichte: den entscheidenden Einfluss von Musikerinnen auf die Entwicklung des Rock.
https://youtu.be/yXCux6CVuDI
„Ich glaube und hoffe, dass die Musik einen durch den Film trägt“, erzählt die Regisseurin im Interview mit Elisa Reznicek vom Haus des Dokumentarfilms. „Zusätzlich kann man vielleicht ein paar Frauen kennen lernen, die man so noch gar nicht auf dem Schirm hatte, und dadurch Freude daran entwickeln, zu schauen, wen es sonst noch gibt.“
Echte Unikate
So stark die porträtierten Persönlichkeiten in ROCK CHICKS sind, so unterschiedlich sind das Selbstverständnis und Auftreten der weiblich gelesenen Künstler:innen in der vornehmlich männlich dominierten Rockmusik.
Suzie Quatro pfeift schon in den 1970er Jahren darauf, dass sie als Frau doch angeblich keine „anständigen“ Bass-Soli spielen kann – und tut’s einfach. Schon vor Jahrzehnten, als geschlechterspezifische Stereotype noch stärker in der Gesellschaft verankert sind als heute, hat sie keine Lust, explizit als „female musician“ eingeordnet zu werden. „Ich habe mir nie Gedanken darüber gemacht, ob ich etwas als Mädchen tun kann oder nicht!“, zitiert sie das Arte Magazin. Linda Gail Lewis positioniert sich im Studio und bei Konzerten hingegen bewusst als „Woman with Balls“, denn: „Für Frauen ist es schwieriger, Karriere zu machen. Du musst im Grunde wie ein Mann sein. Aber ich kann das, ich bin eine Frau mit Eiern!“ Und Gitarristin Rosie Flores? Betont die weiblichen Qualitäten ihres Spiels, das ihr unter Kenner:innen einen Platz in der Liste der besten Gitarrist:innen gesichert hat. Für den großen Durchbruch im Mainstream reichte es trotzdem nie.
Teils mehrfach marginalisiert
Für die Tatsache, dass Musikerinnen teils mehrfach marginalisiert und bewusst aus dem kollektiven Gedächtnis getilgt wurden, schafft ROCK CHICKS ebenfalls Bewusstsein. So berichtet die seit 2019 Leitende Kuratorin der Rock ‘n’ Roll Hall of Fame, Nwaka Onwusa, mit Tränen in den Augen davon, wie selten weiblich gelesene People of Colour in der Vergangenheit überhaupt in die musikalische Ruhmeshalle aufgenommen wurden. Sister Rosetta Tharpe (posthum, 2018) und Tina Turner (als verdiente Solokünstlerin ohne Ike, 2021) sind zwei Beispiele. „Vielleicht ist die ganze Geschichte falsch“, betont auch Gayle Wald. „Wir müssen an den Anfang zurück und sie an den Wurzeln herausziehen.“ Als Autorin der Tharpe-Biografie „Shout Sister Shout“ hat sie dem Bild der stilprägenden Schwarzen und mutmaßlich queeren Musikerin wichtige Pinselstriche zugefügt.
ROCK CHICKS – I AM NOT FEMALE TO YOU von Marita Stocker liefert ein weiteres Puzzleteil, ohne Vollständigkeit für sich zu beanspruchen. „Ich bin keine Musikologin. Mir ging es nicht darum, die ganze Musikgeschichte nachzuerzählen“, sagt Stocker im HDF-Interview. „Jede für sich ist auf ihre eigene Art inspirierend. Es sind sehr beeindruckende und starke Frauen!“ Die subjektive Auswahl der Protagonistinnen und das Schaffen eines offenen Raums, in der jede so sein darf, wie sie ist, schaffen Parallelen zur Musik. Hier wie dort ist es vor allem die individuelle Handschrift, die der Kunst Charakter gibt – und davon hat ROCK CHICKS jede Menge!
Ausgezeichnet mit dem Baden-Württembergischen Filmpreis 2023
Nach der Auszeichnung als „Best Musical Documentary Film“ beim Festival „Dock of the Bay“ 2023 in San Sebastian wurde ROCK CHICKS – I AM NOT FEMALE TO YOU auch bei der diesjährigen Filmschau Baden-Württemberg in Stuttgart prämiert. Er ist Preisträger des mit 2.000 € dotierten Baden-Württembergischen Filmpreises 2023 in der Kategorie „Bester Dokumentarfilm“, gestiftet vom Haus des Dokumentarfilms · Europäisches Medienforum Stuttgart e.V. (HDF) und dem Filmbüro Baden-Württemberg.
„Wegbereiterinnen im Rock Business waren und sind seltene, manchmal sogar scheue Vögel, von denen man viel zu wenig hört. Umso erstaunlicher, was Marita Stocker und ihrem Team mit diesem Kino-Dokumentarfilm gelingt“, so die Dokumentarfilm-Jury (Ulrike Becker, HDF-Geschäftsleitung; Sonja Ludwig, Filmakademie Baden-Württemberg; Elisa Kromeier, ehemalige Programmleiterin Filmbüro Baden-Württemberg). „Durch ihre tiefgründige Recherche und hervorragende Interviewführung schafft sie es, ihre ‚Rock Chicks – I am not female to You‘ so zu öffnen, dass sie ihre ganz individuellen Strategien als weibliche Musikprofis preisgeben. Im Zusammenspiel von Bildsprache, energiegeladener Musik und verschmitztem Humor wird der Film zu einem künstlerischen Gesamtpaket, bei dem das Handwerk in allen Gewerken stimmt. Darüber hinaus springt die geballte Power über und macht Lust, alle Herausforderungen des Lebens mit eigener Spielart zu rocken.“
Die Verleihung der Baden-Württembergischen Filmpreise fand am 10. Dezember 2023 in Stuttgart statt und war zugleich der feierliche Abschluss der Filmschau BW und des Jugendfilmpreises BW/JuFi (Gewinner Bester dokumentarischer Film beim JuFI: IWONA WILD von Alisa Grabowski; Preisstifter: Haus des Dokumentarfilms).
Der Dokumentarfilm ROCK CHICKS – I AM NOT FEMALE TO YOU hatte am 9. März 2023 deutschen Kinostart. Die knapp einstündige Fernsehfassung ist noch bis zum 6. Januar 2024 in der Arte Mediathek verfügbar.
Credits: ROCK CHICKS – I AM NOT FEMALE TO YOU. Buch und Regie: Marita Stocker. Kamera: Mitja Hagelüken. Schnitt: Ana Rocha Fernandes. Ton: Christoph Wonneberger. Eine Produktion von ACCENTUS Music in Ko-Produktion mit ZDF (Redaktion: Christopher Janssen) und Kooperation mit Arte. Im Verleih von déjà-vu film. Deutschland, 2023.