Punk bei DOK Premiere: SCHLEIMKEIM – OTZE UND DIE DDR VON UNTEN
„Es tut mir leid: Wir können nur so viele Karten verkaufen, wie Leute in den Kinosaal passen“, heißt es schulterzuckend an der Kasse im Atelier am Bollwerk Stuttgart. Die DOK Premiere von SCHLEIMKEIM – OTZE UND DIE DDR VON UNTEN ist restlos ausverkauft. So manche:r aus der langen Schlange am Ticketschalter zieht also notgedrungen wieder ab – und vielleicht weiter zur Veranstaltung am darauf folgenden Tag in Ludwigsburg. Denn auch im Caligari Kino läuft die vom Haus des Dokumentarfilms präsentierte DOK Premiere plus Filmgespräch unter regem Publikumszuspruch.
Dokumentarfilm über legendäre Punk-Band aus dem Osten
Dass ausgerechnet ein Dokumentarfilm über eine rotzig-trotzige Punkband aus der ehemaligen DDR im grundsoliden Ländle so gut funktioniert und ein völlig anderes Publikum als sonst ins Arthaus-Kino lockt, freut und überrascht gleichermaßen. Die Haare sind bunt bis grau, das Bier ist kalt und die Stimmung ausgelassen. Schon in den ersten Minuten der No-Budget-Produktion merken die Zuschauer:innen, dass in diesem Film die Leidenschaft und nicht die Gewinnerzielungsabsicht den Ton angibt. Neben der hervorragenden Montage von Interviews, Archivmaterial und Musik ist das der vielleicht größte Pluspunkt von SCHLEIMKEIM – OTZE UND DIE DDR VON UNTEN und definitiv etwas, das von allen Anwesenden gewürdigt wird.
https://www.youtube.com/watch?v=pWt0Cp5LglA
SCHLEIMKEIM – OTZE UND DIE DDR VON UNTEN. Dokumentarfilm von Jan Heck. Produktion: Kontrastfilm, Förderung: Film- und Medien Nachwuchsförderung Rheinland- Pfalz, Produzent/Drehbuch/Schnitt: Jan Heck, Kamera: Fabian Weber, Jonas Eichhorn, Robert Schulzmann, Robert Franz, Martin Kadel, Gabriel Sahm, Johanna Amberg, David Schütz, Matea Buzuk, Musik: Marian Mierzwa-Hofmann, Verleih: Arsenal Filmverleih, © 2024
„Mir wurde mit 14 Jahren eine Schleimkeim-CD in die Hand gedrückt. Auch mit 28 fand ich diese Musik noch voll geil und dachte: ‚Warum hat eigentlich niemand mal einen Film über die Band gedreht? Das würde ich gern sehen!‘ Also hab‘ ich es einfach gemacht!“, erzählt Regisseur Jan Heck (*1991) beim Publikumsgespräch. Auch er ist kein „Ossi“, sondern gebürtiger Schwabe mit Leidenschaft für Film und Musik, der selbst Gitarre spielt und singt. „Ich habe überlegt, wie es am billigsten geht. Also habe ich mich bei einer Hochschule für einen Master eingeschrieben, denn die haben eine Medienausleihe, wo man Kameras und das ganze Zeug kostenlos bekommt. Außerdem habe ich viele Freunde, die Böcke hatten, ohne Geld mitzumachen. Eine ganz kleine Förderung gab’s auch noch, die ungefähr das Benzingeld gedeckt hat.“
Authentisches No-Budget-Projekt mit viel Leidenschaft
Gut vier Jahre lang hat Jan Heck an seinem Projekt gearbeitet, in dem „in jedem Frame mein Schweiß und mein Blut drinsteckt“. Er fährt ins weltberühmte Stotternheim – ein kleines Nest nahe Erfurt, in dem Dieter „Otze“ Ehrlich († 2005) aufwächst, sich für die Rebellion und den Punk entscheidet und wo schließlich sein Leben eine tragische Wendung nimmt.
Zu den Vor-Ort-Aufnahmen kommen Gespräche mit ehemaligen Bandmitgliedern, Weggefährt:innen und vielen bunten Vögeln. Unikate wie „Abse“ und „Speiche“ (die echten Namen sind sogar dem Regisseur nicht bekannt) fungieren dabei nicht als reine Talking Heads, sondern verleihen dem Film zusätzlich Kolorit und Authentizität. „Natürlich habe ich Abse und Speiche geplant reingeschnitten, weil ich sie einfach wunderbar fand. Aber was für eine Kraft sie wirklich entwickeln, habe ich erst verstanden, als ich zum ersten Mal im Kinosaal saß und sich die Leute halb totgelacht haben. Es sind sogar schon Menschen auf mich zugekommen und haben gefragt, ob es noch mehr Material über die Beiden gibt.“
Von Licht und Schatten: Otze, Schleimkeim und die DDR
Ihre Erinnerungen bleiben mitunter recht vage, verweben sich aber dennoch zu einem Flickenteppich, der Otze sogar in seinen dunkelsten Stunden weich bettet. Durch die Anekdoten aller am Film Beteiligten wird schnell klar, welch hohen Preis er und die anderen für ihre künstlerische und persönliche Freiheit in der DDR bezahlt haben. Die Zuschauer:innen erfahren beispielsweise, dass „subversive, die sozialistische Kultur zersetzende Elemente“ wie Otze, seine Bandkollegen und Fans immer wieder grundlos auf offener Straße verhaftet und in Scheinprozessen zu langen Haftstrafen verurteilt werden. Jan Heck bringt es auf den Punk(t): „Wenn man sich in der DDR entscheidet Punk zu machen, ist klar, dass man automatisch auf die Fresse kriegt. Und wenn man dann noch so geile Texte hat, Otze heißt und so ein ikonischer Typ ist, der immer schon eine Legende war, dann muss man das einfach lieben. Diese Band hatte einerseits etwas sehr Bodenständiges und war andererseits so dermaßen radikal. So etwas gibt es, glaube ich, nicht nochmal.“
Rares Archivmaterial macht Lebensgefühl erfahrbar
Zu den Interviews gesellt sich rares Archivmaterial wie Bilder aus dem Schleimkeim-Proberaum, Stasi-Akten und ein ganz besonderer Konzertmitschnitt. Der erste Gig der Band findet 1981 in einem geschützten kirchlichen Rahmen statt, denn öffentliche Auftritte sind für Punkbands (die es offiziell gar nicht gibt bzw. geben darf) schlicht nicht möglich. „Die Konzert-Aufnahme aus der Kirche habe ich aus einem Archiv im Keller ausgegraben. Das waren irgendwelche alten Videokassetten. Die wussten selbst nicht einmal, dass sie das haben. Ich habe alles angeschaut, aber bis zehn Minuten vor Schluss nichts gefunden. Bis ich irgendwann gemerkt habe, dass eine Videokassette fehlt“, schildert Jan Heck. „Es wurde also nochmal im Archiv gesucht und das Videoband schließlich aus irgendeiner Ecke geholt – und da war Schleimkeim drauf! Wir haben uns alle tierisch gefreut und gejubelt!“
Punk’s not dead: Otze und Schleimkeim leben im Film weiter
Ein Glücksgefühl, das ansteckend und augenscheinlich bis nach Hof zu spüren ist, wo SCHLEIMKEIM – OTZE UND DIE DDR VON UNTEN im vergangenen Herbst Weltpremiere feierte. „Als die Leute bei den Hofer Filmtagen meinen Film ins Programm genommen haben, habe ich zum ersten Mal in meinem Leben Champagner getrunken“, so Jan Heck. „Ich hatte mir gedacht: ‚Ach kommt, ich probier’s mal und habe ihn einfach eingereicht.‘ Und dieses wunderbare Filmfestival, bei dem schon Helden von mir Filme präsentiert haben, fand meinen Film tatsächlich gut und hat ihn genommen. Ich bin echt ausgerastet!“ Und noch eine glückliche Fügung spielt dem Regisseur in die Karten. Im Hofer Publikum sitzt Stefan Paul (Arsenal Filmverleih Tübingen), der dem Festival lange verbunden ist und dort selbst fürs Lebenswerk geehrt wird. Paul nimmt den Film kurzerhand ins Programm und ist auch bei der Stuttgarter DOK Premiere vor Ort, wo man ihn neben vielen weiteren begeisterten Zuschauer:innen mit einem breiten Lächeln im Gesicht im Kino sitzen sieht.
Der offizielle Kinostart von SCHLEIMKEIM – OTZE UND DIE DDR VON UNTEN ist am 14. März 2024.
Die DOK Premiere ist eine vom Haus des Dokumentarfilms kuratierte Filmreihe. Sie präsentiert einmal im Monat in Stuttgart und Ludwigsburg aktuelle Kinostarts von Dokumentarfilmen. Die jeweiligen Regisseur:innen sind für Werkstattgespräche mit dem Publikum vor Ort. Kuratoren sind Goggo Gensch (Stuttgart) und Kay Hoffmann (Ludwigsburg).
SCHLEIMKEIM – OTZE UND DIE DDR VON UNTEN. Dokumentarfilm von Jan Heck. Produktion: Kontrastfilm, Förderung: Film- und Medien Nachwuchsförderung Rheinland- Pfalz, Produzent/Drehbuch/Schnitt: Jan Heck, Kamera: Fabian Weber, Jonas Eichhorn, Robert Schulzmann, Robert Franz, Martin Kadel, Gabriel Sahm, Johanna Amberg, David Schütz, Matea Buzuk, Musik: Marian Mierzwa-Hofmann, Verleih: Arsenal Filmverleih, © 2024