DOK Premiere im November: POL POT DANCING

Das Haus des Dokumentarfilms zeigt im November Enrique Sánchez Lanschs Dokumentarfilm POL POT DANCING als DOK Premiere in Berlin, Stuttgart und Ludwigsburg. Regisseur Enrique Sánchez Lansch ist für Publikumsgespräche zu Gast. 

Anspannung, erste wohlgesetzte Schritte, Handbewegungen, filigran wie ein Windhauch und fließend wie ein plätscherndes Gewässer. Eine choreographische Anordnung. Eine Szene soll entstehen. Noch ist unklar, welche Erzählung die Tänzerinnen im Sinn haben. Die verdichteten Aufnahmen, die Nähe suchen und Distanz wahren, beschwören Mythologie und sind doch greif- und anschaubare Realität. Ein filmischer Sog, rätselhaft noch, in einer ungewissen Schwebe des Wohin.

Chea Samy und ein Mann namens Pol Pot

Ein harter Schnitt nach diesen verwunschenen ersten Einstellungen führt zu einer dokumentarischen Aufnahme, schwarzweiß, körnig. Eine Interviewsituation. Im Zentrum fläzt ein dicklich wirkender Mann in maouniformiertem Anzug auf einem Sessel, umgeben von lächelnden Claqueuren. Er gefällt sich in der Rolle, die er hier spielt. Weiß sich unantastbar, gibt den aufgeräumten Mann von Welt. ‚Genosse Kamerad‘, plaudert er, sich an den Gesprächspartner wendend, der nicht von der Kamera erfasst wird, ‚du bist der Erste, der diese Episode aus meinem Leben erfährt‘. Erzählt, was er, wie er betont, noch nie offenbart habe, von seinen Jugendjahren, dass er – und amüsiert sich über diese Lebenspassage – eine Zeitlang als Mönch in einem buddhistischen Kloster gelebt habe und im kambodschanischen Königshaus erzogen worden sei. Dass das ein Privileg war, verschweigt er. Auch dass eine Verwandte, Chea Samy mit Namen, die eine führende Tänzerin am Hof war, ihn unterstützte, den Jungen, der noch Saloth Sar hieß und noch nicht zu Pol Pot geworden war, ihn wie eine Ziehmutter förderte und half, ihm ein Studium in Paris zu ermöglichen. In einer anschließenden Szene, wieder eine dokumentarische Aufnahme aus früherer Zeit, erzählt Chea Samy ebendies und auch vom abgeschirmten und behüteten Leben als Tänzerin im Königshaus, einzig hingegeben dem Tanz. Es sind diese bis dahin unbekannten Archivaufnahmen, die der Regisseur Enrique Sánchez Lansch gefunden hat, die seinem Film die historische Grundierung geben.

Apsara …

Apsaras – das sind weibliche himmlische Wesen, Geister der Wolken und des Wassers, gleich Feen und Nymphen. In der hinduistischen und buddhistischen Kultur kommt ihnen eine herausgehobene Rolle zu. Verewigt in Skulpturen, in Malerei und Literatur, und verlebendigt im Tanz. So wird denn auch der höfische Tanz ‚Apsara‘ genannt. Die Tänzerinnen wurden als halb menschliche, halb göttliche Frauen verehrt. Man sagte ihnen nach, dass sie ihre Körper nach Belieben verändern und verwandeln könnten. Was eine gestische Entsprechung in den fragilen, wie gehauchten Bewegungen des Tanzes findet. Der Mythologie zufolge wohnten sie in den Palästen der Götter, im weltlichen Leben also am königlichen Hof. Besonders in der Tradition und Mythologie der Khmer, der größten Ethnie in Kambodscha, werden sie verehrt. In den Tempelanlagen von Angkor Wat sind sie vielfach dargestellt als Wesen von entrückter Schönheit, als unangreifbar erscheinen sie, dem Alltag entrückt, hingebungsvoll in ihren kunstvollen tänzerischen Posen. Die dortigen Reliefs sind Inspiration für die Formen des Khmer-Tanzes.

… und der Wahn Pol Pots, der einmal Saloth Sar war

Enrique Sánchez Lansch zeigt in behut- und achtsamen Bildern, wie eine Choreografie entsteht. Eine Choreografie, die sich nicht in Legenden verliert, sondern sich einhakt in die unmittelbare Vergangenheit. Entwickelt von der Tänzerin Sophiline Cheam Shapiro, einer Schülerin Cheam Samys. Über die Choreografie und die zurückhaltenden Erläuterungen wird erzählt, wie Cheam Samy ein Opfer der menschenvernichtenden Politik ihres ehemaligen Ziehsohns wurde, der in Paris sich zum Kommunisten wandelte, der, zurück in Kambodscha, sich an die Macht putschte, eine mörderische Diktatur etablierte, einen Agrarkommunismus nicht nur predigte, sondern gewalttätig durchzusetzen suchte, sich inthronisierte, der sich innerhalb der Machtclique als ‚die Organisation‘ (‚Angkar‘) titulieren ließ und sich den Kampfnamen ‚Kmaer da’em‘ zulegte, was etwa ‚Original Khmer‘ oder ‚Alt Khmer‘ bedeutet. Die rassistische Konnotation ist unverkennbar und gewollt.

Denn nach Pol Pots ideologisch verquerer Vorstellung, sollte Kambodscha seinen vorbuddhistischen Ruhm wieder erlangen, machtvoll werden wie das mittelalterliche Königreich Angkor und einstige Gebiete, die nun zu Vietnam und Thailand gehörten, zurückerobern. Er überhöhte die ‚Rasse‘ Kambodschas und verachtete den einzelnen Menschen. Mit Ausnahme seiner selbst und der willfährigen Gefolgsleute. Nicht nur siedelte er zwangsweise die städtische Bevölkerung aufs Land um, dem Verhungern preisgegeben und der Willkür der ‚Roten Khmer‘, sondern er verfolgte auch jene, die ihm als ‚unrein‘ galten, die vietnamesische Minderheit und die Minderheit der muslimischen Cham. „Wenn wir stark sind, sind sie schwach, wenn sie schwach sind, sind wir stark“, war die rassistische Prämisse, nach der er handelte. Wer nicht folgte, wurde ermordet. „Wir können nichts für die tun, die uns nicht folgen“, sagt er in einer weiteren historisch dokumentarischen Aufnahme. Von 1976 bis 1979 tobte das Regime und verübte an der eigenen Bevölkerung einen Genozid, dem – nach unterschiedlichen Schätzungen zwischen einer und zwei Millionen Menschen zum Opfer fielen. Sánchez Lansch zeigt Aufnahmen der sogenannten ‚Killing Fields‘ und des Foltergefängnisses ‚Tuol Sleng‘ in Phnom Penh, heute ein Museum und eine Erinnerungsstätte.

Sophiline Cheam Shapiro …

2011 leitete Enrique Sánchez Lansch Workshops für Film in Kambodscha. Er selbst hatte bis dahin Filme gedreht, wiederholt mit musikalischem Bezug und der Verkettung von Musik und Politik und Gesellschaft: etwa 2004 – zusammen mit Thomas Grube und mit den Berliner Philharmonikern – „Rhythm Is It!“, Dokumentation eines musikpädagogischen Projekts, in dem Schülerinnen und Schüler, viele aus sogenannten ‚Problemschulen‘, klassische Musik und Tanz für eine Aufführung von Strawinskys Ballett „Le sacre du printemps“ proben; und 2007 „,Das Reichsorchester‘. Die Berliner Philharmoniker und der Nationalsozialismus“. Die Bekanntschaft mit der Tänzerin Sophiline Cheam Shapiro führte ihn in die kambodschanische Tanztradition ein; und als 2014 deren Bühnenstück über ihre Lehrerin Cheam Samy nicht realisiert werden konnte, entstand der Plan, die Idee filmisch zu verwirklichen.

… und der Versuch, Geschichte in Tanz zu übersetzen

Sánchez Lansch lässt verschiedene Blickwinkel zu auf Pol Pot, der sich in seinem Vernichtungswillen gegen alles Künstlerische, besonders gegen den höfischen Tanz, gleichsam selbst verleugnete und seine Herkunft zu zerstören trachtete. Ein Akt der Selbstvernichtung durch Selbsterhöhung. Wie diese Geschichte in verschachtelten tänzerischen Bildern erzählt wird, wie die Protagonist:innen sich in unterschiedlicher Intention und Empfindung daran beteiligen und die Vergangenheit interpretieren, ist filmisch aufgehoben in der Choreographie, die aufgeführt wird auch in den Tempelruinen von Angkor Wat. Vor allem aber würdigt der Film die Tänzerin Cheam Samy, die die Verfolgung überlebte, deren Erschrecken groß war, als sie erkenne musste, dass ihr ehemaliger Zögling zu einem menschenverachtenden Mörder mutiert war, und die dennoch die Kraft wachhielt, das am Leben zu erhalten, was ihr Leben einmal war: das Königliche Ballett von Kambodscha. Heute von der UNESCO anerkannt als „Immaterielles Weltkulturerbe der Menschheit“.

So weitet sich der Film zu einem historischen Exercitium im Tanz.

POL POT DANCING. Dokumentarfilm von Enrique Sánchez Lansch. Produktion: Fruitmarket Kultur und Medien in Koproduktion mit Up North Films und ZDF in Kooperation mit ARTE. Gefördert von BKM – Die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien, Film- und Medienstiftung NRW, DFFF – Deutscher Filmförderfonds, FFA – Filmförderungsanstalt, The Norwegian Film Institute, The Fritt Ord Foundation. Verleih: JIP Film und Verleih; © 2023
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Picture of Wolfgang Jacobsen
Wolfgang Jacobsen, geboren 1953 in Lübeck, bis 2019 Leiter Forschung und Publikationen an der Deutschen Kinemathek. Autor und Herausgeber zahlreicher Bücher zur deutschen und internationalen Filmgeschichte. Arbeiten für Hörfunk und Fernsehen, schreibt über Film und Literatur. Lebt als freier Autor in Berlin.
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