DOK Premiere im Dezember: ÜBER UNS VON UNS

Das Haus des Dokumentarfilms zeigt im Dezember Rand Beirutys Dokumentarfilm ÜBER UNS VON UNS als DOK Premiere in Berlin, Stuttgart und Ludwigsburg. Regisseurin Rand Beiruty und Kameramann Marco Müller sind für Publikumsgespräche zu Gast. 

„Wer sich selbst und andre kennt, wird auch hier erkennen: Orient und Occident sind nicht mehr zu trennen.“
Goethe, West-östlicher Divan

Schweben

Eine junge Frau. Haare, Hals und Nacken vom Hijab bedeckt. Sie lächelt. Versonnen. In sich gekehrt. Die Kamera nimmt sie halbnah auf, umkreist sie, sich von ihr entfernend. Sie steht auf einem Dach. Ihr Blick richtet sich in die Ferne. Horizont vor trister Platte. Eberswalde, im Nordosten Brandenburgs gelegen.

Filmen

„Ist es komisch vor der Kamera?“ Eine Gruppe junger Frauen, kaum volljährig, genieren sich. Sie scherzen. Nehmen die, die sie filmen wollen, selbst mit der Handykamera auf. Sie sprechen arabisch. Sind fröhlich. Und irgendwie auch unsicher. Sie kommen aus Syrien, dem Irak, aus dem Libanon und anderen Ländern. Flüchtlingskinder. Sie finden sich wieder in einer Fremde, die nur schwer zu begreifen ist. Geschweige denn, sich in sie einzufinden. Sie wenden sich der Regisseurin neben der Kamera zu. Beginn einer Interaktion.

Träumen

„Beschreibt einen Tag in eurem Leben in fünf Jahren.“ Es ist das Jahr 2019. Die Regisseurin wird die jungen Frauen von diesem Zeitpunkt an bis heute begleiten. Eine Langzeitstudie. Sie träumen davon, Polizistin zu werden, Ärztin oder Flugbegleiterin. Sie gackeln und gickeln, kuscheln, überschlagen sich vor Übermut. Sie sind ganz bei sich. Aber in diesem Moment nicht in Eberswalde. In Gedanken sind sie in ihren Heimatländern, aus denen ihre Familien fliehen mussten. Sie sind nicht die, die sie in ihren Träumen werden wollen. Sie sind da, wo sie eigentlich nicht hinwollten. Wie ist die Gegenwart?

Erzählen

Die Regisseurin Rand Beiruty lebt zwischen Amman und Berlin. An der Filmhochschule Babelsberg hat sie studiert. Beiruty ist nicht nur Dokumentaristin, sie mischt sich in den Prozess, in die Nachdenklichkeit ihrer Protagonistinnen, eine neue Heimat zu finden, auch aktiv ein. Lädt zu künstlerischen Workshops ein. So gelingt es ihr, den Lebens-Swing der jungen Frauen im Bild festzuhalten. Nicht starr, sondern unvermittelt. Sie fängt – und inszeniert – intime und spielerisch leichte Szenen.

Spielen

Die Kamera sucht die Nähe der Darstellerinnen, denn das sind sie: sie spielen, schauspielen nicht, sondern sie spielen sich selbst. Ihre Emotionen tragen den Film. Beiruty lädt sie im Verlauf der dokumentierten Zeit zu verschiedenen Aktionen ein. Lässt sie auf Künstlerinnen treffen, die wie sie einen Migrationshintergrund haben. Zuhören, sich öffnen, im Spiel das zeigen, was im Inneren als Herzenswunsch schlummert. „Hauch um Hauch und Glück um Glück.“ Auch die Enttäuschungen offenbaren. Warum sie sich nicht angenommen fühlen. Eine erzählt, sie habe sich einmal in der Schule neben ein deutsches Mädchen gesetzt. Die habe ihre Sachen zusammengerafft und sich einen anderen Platz gesucht. „Du bist hier in Deutschland, musst du Respekt haben.“ Eine verknappte Lebenserfahrung. Alles, was sie sagen, rückt ins Licht einer beinahe heiter-ironischen Überlegenheit.

POL POT DANCING. Dokumentarfilm von Enrique Sánchez Lansch. Produktion: Fruitmarket Kultur und Medien in Koproduktion mit Up North Films und ZDF in Kooperation mit ARTE. Gefördert von BKM – Die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien, Film- und Medienstiftung NRW, DFFF – Deutscher Filmförderfonds, FFA – Filmförderungsanstalt, The Norwegian Film Institute, The Fritt Ord Foundation. Verleih: JIP Film und Verleih; © 2023

Schaukeln

Vor einem Wohnblock hocken zwei der Mädchen auf einer Schaukel. Die Einstellung ist in der bildnerischen Gestaltung stumm. So wie viele andere austarierte stumme Postkartenbilder aus Eberswalde. Kamera: Marco Müller. Präzise eingerichtet und so etwas wie der ‚deutsche‘ Kontrapunkt zu den lauten, vitalen und überbordenden Szenen, in denen die jungen Frauen agieren. Von außen kein Widerhall. „Du kommst höher“, ruft die eine der anderen zu. Ist das ein Versprechen?

Integrieren

„Volk und Knecht und Überwinder / Sie gestehn, zu jeder Zeit, / Höchstes Glück der Erdenkinder / Sey nur die Persönlichkeit.“ Was können Kultur und Kunst erreichen? Die globalisierte Welt, zerrissen von Kriegen und anderen humanitären Katastrophen ist immer weiter zusammengerückt. Ist enger geworden. Vor noch nicht allzu langer Zeit vielleicht noch fern erscheinende Regionen sind uns heute nah. Die Weltgeschichte ist übergriffig. Es ist mehr denn je gut und wichtig, wenn man sich selbst und andere kennt. Wenn man Verständnis für andere Kulturen aufbringt, sich einbringt, um zu verstehen, Traditionen kennenlernt. Das geht nur, wenn man aufeinander zugeht. Sich einlässt. Frei von Vorurteilen. „Es fällt dir schwer, ich zu sein / Und es fällt mir schwer, du zu sein“, dichtet eine. Die Aussagen der Mädchen pendeln in dem Versuch, die Lücke zur Integration zu finden. Assimilation – bestenfalls eine Option, die in ferner Zukunft liegt. Im Exil suchen sie ihre Identität, denn ohne diese gefunden zu haben, werden ihre Träume Träume bleiben. Rand Beiruty und ihre Protagonistinnen fixieren in kritischer Auseinandersetzung ihre Gegenwart und in einer Art autobiografischer Rückversicherung und Rechtfertigung ihren eigenen ‚historischen‘ Standort. „Jedes Leben sey zu führen, / Wenn man sich nicht selbst vermisst; / Alles könne man verlieren, / Wenn man bliebe was man ist.“

Erkennen

Am Ende ihres Films inszeniert Beiruty ihre Protagonistinnen in den Posen ihrer Wunschberufe: Polizistin, Ärztin, Stewardess und und und. Alles löst sich auf in einem großen Spiel der Träume. Lebensclips. Ob es Traumbilder bleiben, bonbonfarben und allzu schön? Eingeschnitten sind Bilder einer neuen Realität von zwei Frauen, die einen Ausbildungsplatz gefunden haben. Sie nehmen ihn an, geben ihr stilles Ziel vor Augen aber nicht auf. Ende offen, „doch solange du atmest, hast du einen Traum“.

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Picture of Wolfgang Jacobsen
Wolfgang Jacobsen, geboren 1953 in Lübeck, bis 2019 Leiter Forschung und Publikationen an der Deutschen Kinemathek. Autor und Herausgeber zahlreicher Bücher zur deutschen und internationalen Filmgeschichte. Arbeiten für Hörfunk und Fernsehen, schreibt über Film und Literatur. Lebt als freier Autor in Berlin.
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