DOK Premiere im Februar: NONKONFORM

Das Haus des Dokumentarfilms zeigt im Februar 2025 Arne Körners Dokumentarfilm NONKONFORM als DOK Premiere in Berlin, Stuttgart und Ludwigsburg.

Ein leichter Korken, tanzt ich dahin auf steiler Welle: / die erste Meerfahrt haben die Stürme benedeit. / Von solcher Welle heißt es, sie töte und sie fälle – / Die albernen Laternen der Häfen blieben weit!

Arthur Rimbaud, Le Bateau ivre / Das trunkene Schiff. Übersetzung: Paul Celan 

Splitscreen. Bildfetzen flackern. Super 8. Ein Mann mit Glatze grimassiert, fratzt in die Kamera. Es ist Dietrich Kuhlbrodt. Ganz Nonkonform. Landschaftsbilder. Irgendwo im Süden. Wolkenformationen. Ruhe im Bilderkarton.

„Ist das eine Autoreportage, wenn ich wiedergebe, wie Erinnerungen kommen und gehen? Für ein Buch braucht es dazwischen einen STOP, um eine zu rauchen oder aufs Klo zu gehen, und zu lesen ist solange ein Text, der steht, weil er schon mal wo erschienen ist. Jetzt aber: PLAY.“

Erste Sätze in „Das Kuhlbrodtbuch“, erschienen 2002 im Verbrecher Verlag. Und neu aufgelegt und ergänzt 2025. Was hier von Dietrich Kuhlbrodt aufgeschrieben ist, erzählt er in diesem Film – frei von der Leber weg, möchte ich sagen, von der man glaubte, sie sei Sitz der Gefühle und Empfindungen. Klar, nicht alles, was er im Buch notiert hat, erzählt er vor der Kamera. Doch fetzt sich die freie Rede mit dem Verschriftlichten. Dietrich Kuhlbrodt – Oberstaatsanwalt, Filmkritiker, Schauspieler.

Leben & Abenteuern

Risiko, sinniert er, das meine immer – entweder gut oder schlecht. Für Restrisiken sei er sein Leben lang zu haben. Bilder des zerbombten Hamburg. Für ihn – damals zehn Jahre alt – sei der Bombenkrieg ein Abenteuer gewesen. Während sich die Menschen im Luftschutzkeller duckten, habe er lieber draußen gestanden bei denen, die noch eine rauchen wollten, und mit ihnen zum Himmel gestarrt. „Das war fantastisch“, vor allem die „Tannenbäume“, die alles erleuchteten, so ein „Feuerwerk kriegst du nicht mehr zu sehen“. Was einem Zehnjährigen so durch den Kopf geht, der anderntags – Punkt acht – wieder die Schulbank drückte.

Kindheit im Krieg, Pimpf bei der Hitlerjugend, Studium in Paris – „das volle Leben drin“, Jura – „es gab keine Feindeskultur“.  Befreundet mit Ulrich Gregor, dem späteren Filmkritiker und Festivalleiter, von der Volksschule an. In Paris erhält er die Einladung bei einer Aufführung von Christian Dietrich Grabbes „Scherz, Satire, Ironie und tiefere Bedeutung“ mitzuwirken. Welche Rolle – der monströse Freiherr von Mordax, der verliebte Herr Mollfels, Dichter Rattengift oder gar der Teufel? Egal – Theaterblut geleckt. Und das vor dem Background, dass Kanzler Adenauer und Präsident de Gaulle die deutsch-französische Freundschaft beschließen und besiegeln. „Alle Hemmnisse sind weg“ beim Spielen. Spaß – dieses sehr persönliche Schlüsselwort setzt sich in Kuhlbrodt fest.

Der Film lässt Kuhlbrodt seinen Lauf der freien Rede. Für ihn gelte nicht das „entweder – oder“, sondern „sowohl – als auch“. Vor Gericht heiße es mit Fug und Recht: „Im Zweifel für den Angeklagten“. Zweifel zulassen. Zumeist in der Halbnahen sieht man ihn, nachdenklich, verschmitzt, mit Freude daran, erzählen zu können. Die Regie vertraut vollkommen auf ihn. Auf das, was er zu sagen hat. Beschränkt sich darauf, Dokumentaraufnahmen einzuschneiden – Geschichten aus der jungen Bundesrepublik, auch viele private Aufnahmen. Eine persönliche Zeitreise durch die Geschichte der Bundesrepublik.

Regie & Buch: Arne Körner; Kamera: Arne Körner, Elias Müller, Max Sänger; Schnitt: Andrea Schumacher; Produzent: Matthias Greving; Produktion: Kinescope Film Hamburg in Koproduktion mit Zweites Deutsches Fernsehen (ZDF) und in Zusammenarbeit mit Against Reality Pictures; Redaktion: Jörg Schneider (ZDF); Verleih: missingFILMs; © 2024

Abenteuern & Leben

Nonkonform? Nun – Dietrich Kuhlbrodt vertellt Döntjes, tüdert im Garten, muckt mit den Enkeln beim Brettspiel, sportelt, bringt den gelben Sack weg, sucht zwischen Papierstapeln, zeigt Urkunden vor, der dazugehörige Orden – futsch, nimmt einen Schluck Kaffee, nippt am Wein, zerkaut ein Glas und kleckert Scherben. Dramaturgisch kommt der Film als locker geformte Szenenfolge daher.

Scherben und Splitter: Kuhlbrodt reiht Erinnerungsfragmente. Die Filmmacher hören ihm zu. Namen, Gestalten, Bewegungen. Die Augenblitzer verraten eine offenbar ständig in der Revolte befindende Persönlichkeit und Seele. Was treibt diesen Menschen an, fragt der Zuhörende und-schauende sich unwillkürlich? Ist es eine sengende Sehnsucht nach Freiheit? Jedenfalls schmälert die Freude am scherzhaften, satirisch-ironischen, von tiefer Bedeutung getränkten Hieb nicht die Diskretion des Ich.

Nur in den Passagen, in denen Kuhlbrodt von „Biggi“ erzählt, seiner Frau Brigitte Kausch – Beuys-Schülerin an der Düsseldorfer Kunstakademie, Malerin, Performance-Künstlerin, Filmmacherin – kippt die offene Rede in eine sehr persönliche Intimität. Eine emanzipierte Frau, auch für ihn, den Ehemann, herausfordernd in ihrer Unkonventionalität und ihrer Lust an der feinen Provokation. Plötzlich hören wir von einer Liebesgeschichte.

Ermitteln & Spielen

Staatsanwaltschaft sei, so etwa formuliert er an einer Stelle, nichts anderes als ein Rollenspiel. Und man schaut ihm zu, wie er die Robe anlegt, die Krawatte bindet, den Gesichtsausdruck verändert hin zum strengen Blick – als ob er gleich auf die Bretter, die Welt bedeuten, treten wolle oder vor die Kamera. Die Bühne als Gerichtssaal!? „Das Wort Spielen spielte für mich schon immer eine große Rolle“.

Kuhlbrodt gibt einen Einblick in die Verfahren, die er als noch junger Staatsanwalt zu bewältigen hatte. 1965 versetzt zur Zentralen Stelle zur Verfolgung von NS-Verbrechen. Die Behörde war untergebracht in einem leerstehenden Frauengefängnis. Er erzählt von den Beschränkungen der Ermittlungen, so durfte gegen Wehrmachtsangehörige – einer Dienstanweisung gemäß – nicht vorgegangen werden. Sie hatten – Generalabsolution – keine Straftaten begangen. Das stärkte seinen Oppositionsgeist. In der Bundesrepublik selbst rebellierten Studentinnen und Studenten. Ein freier Geist, der nicht in das Wirtschaftswundergläubige passte, äußerte sich – Demos, Sit-ins, Teach-ins. Der Protest zeigt sich auf der Straße. Nun in Hamburg Staatsanwalt, ermittelt Kuhlbrodt gegen Kurt Gerhard Struve, Jurist und Verwaltungsbeamte der Freien und Hansestadt Hamburg. Struve war über Jahre „Betriebsführer der NSDAP“ in der Heil- und Pflegeanstalt Langenhorn, verantwortlich für Selektionen im Rahmen der sogenannten „Euthanasie“, der systematischen Krankenmorde. Aus der staatlichen Anstalt Langenhorn und den Alsterdorfer Anstalten, einer kirchlichen Einrichtung, wurden mehr als 2.500 Menschen – auch in Struves Verantwortung – deportiert und zu Tode gebracht. Ermordet. Das Verfahren, das Kuhlbrodt Mitte der 1970er Jahre gegen den Täter Struve anstrengte, wurde letztendlich eingestellt. Weil, so die banale Pointe von Kuhlbrodts Bericht, der Angeklagte sich beim Lesen der Anklageschrift schon nach wenigen Seiten so aufregte, dass er, wie sein Verteidiger begründete, diese in Gänze nicht lesen konnte. Was ihm zugestanden hätte.

Kuhlbrodts Beharrlichkeit bei der Verfolgung von NS-Verbrechern machte ihn innerhalb der Hamburger Justiz in dieser Zeit zu einem politischen Nonkonformisten…

Spielen & Ermitteln

„Ich weiß, wie Himmel bersten, ich kenn die Dämmerungen, / die Strömung und die Dünung, die Woge, die sich bäumt, / die Früh – verzückt wie Tauben, die sich emporgeschwungen, / und manchmal sah mein Auge, was Menschenauge träumt.“

… Zu dem er aber auch in seiner Lust – als Kritiker längst dem Film verfallen und prägend als einer der Autoren der Zeitschrift „Filmkritik“ –, vor der Kamera zu agieren und den Schocker nicht zu scheuen, geworden war. Es fallen Namen wie Werner Schroeter und Vlado Kristl, Rainer Werner Fassbinder, der ihn einmal gefragt hatte, ob er nicht seine Rippchen essen wolle (die auf dem Teller!) und vor allem Christoph Schlingensief, dem er „verfallen war“. Mit Schlingensief kommt Arthur Rimbaud ins Spiel. Denn als Kuhlbrodt 1984 dessen Film „Tunguska“ sah, müde vom öden Kinomainstream, und miterlebte, dass man Regisseur und Film „pubertär“ schimpfte, schrieb er entdeckungsfreudig einen Aufsatz über Schlingensief für die „Frankfurter Rundschau“ und brachte darin den ‚pubertären Schöpfergeist‘ Rimbauds mit aufs Tapet und dessen jugendliches Geniegedicht „Le bateau ivre“.

„Wo seid ihr. Kinderaugen, zu schaun die Herrlichkeiten? / Das Schuppengold der Welle, den Goldfisch, der da singt! / – Dies schaumumblühte Driften, dies Zwischen-Blumen-Gleiten! / Der Wind, der Wind unsäglich, der meine Fahrt beschwingt!“

Dass vielleicht nicht jede Rolle, die er bei Schlingensief spielte, besonders jene exaltierte Kettensägeverfolgungsjagd in „Das deutsche Kettensägemassaker“ von 1990, den Richtlinien betreffend die Rolle von Staatsanwälten in der Öffentlichkeit – nämlich als wesentliches Organ der Rechtspflege habe der Staatsanwalt jederzeit die Ehre und Würde seines Berufs zu wahren – entsprochen habe, gesteht er nachdenklich ein. Doch weiß er – gewiefter Jurist, der er eben als Nonkonformist auch ist – gleich das Gegenargument zu nennen: Grundgesetz, Artikel 5 (3) – „Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre sind frei.“

Summa summarum
„Der Kuhlbrodtfilm“!!!

„Frei war ich und ich rauchte, von Nebelblau bestiegen, / ich stieß durch Feuerhimmel, ich stieß sie alle ein, / und was den Dichtern mundet, das fühlt ich auf mir liegen: /es waren Sonnenflechten, es war azurner Schleim.“

image_pdfAls PDF speichernimage_printDrucken
Picture of Wolfgang Jacobsen
Wolfgang Jacobsen, geboren 1953 in Lübeck, bis 2019 Leiter Forschung und Publikationen an der Deutschen Kinemathek. Autor und Herausgeber zahlreicher Bücher zur deutschen und internationalen Filmgeschichte. Arbeiten für Hörfunk und Fernsehen, schreibt über Film und Literatur. Lebt als freier Autor in Berlin.
Facebook
Twitter