Vom Durchbrechen des Schweigens

Eine Einführung in den Film EIN EINFACHER MENSCH (1986) von Karl Fruchtmann

Im Rahmen unserer bundesweiten Kinoinitiative zeigte das Haus des Dokumentarfilms am 27. Januar in Kooperation mit der Gedenk-und Bildungsstätte Haus der Wannsee-Konferenz und dem Bundesplatz-Kino den Dokumentarfilm EIN EINFACHER MENSCH des preisgekrönten Regisseurs Karl Fruchtmann. Der renommierte Literatur- und Medienwissenschaftler Prof. Dr. Karl Prümm führte in den Film ein. Seinen Vortrag geben wir in voller Länge wider.

EIN EINFACHER MENSCH wurde 1985 in Israel gedreht. Der Film ist ein Folgeprojekt der zweiteiligen Dokumentation Zeugen von 1981. Vier Jahre später nimmt Karl Fruchtmann die Stimme von Jakow Silberberg aus dem Chor der Auschwitz-Zeugen heraus und behandelt dessen ganz besonderes Schicksal noch einmal genauer und eindringlicher unter dem Gesichtspunkt des Überlebens, des Weiterlebens mit der traumatischen Erinnerung. Produziert wurde der Film vom NDR unter der Redaktionsverantwortung von Dieter Meichsner. Nach Hamburg ausweichen musste Fruchtmann, weil sein Stammsender Radio Bremen den Jahresetat für das Fernsehspiel bereits ausgeschöpft hatte. Das ist insofern bedeutsam, dass Fruchtmann sich auf ein anderes Personal beim Schnitt und beim Ton umstellen musste. Er hatte sich aber ausbedungen, seinen vertrauten Kameramann Günther Wedekind mitbringen zu können. In der ARD traf EIN EINFACHER MENSCH auf erhebliche Widerstände. Nach einer Pressevorführung im April 1986 gab es in den Programmkonferenzen weder Fürsprecher noch Sendeplätze. Erst ein Jahr später wurde der Film in den Dritten Programmen ausgestrahlt. Nach der Auszeichnung im März 1988 mit dem Adolf-Grimme-Preis in Gold dauerte es noch einmal fast ein halbes Jahr bis zur Erstsendung im Spätprogramm der ARD.[1]

Der unscheinbare Titel EIN EINFACHER MENSCH rekurriert auf die von der Deutschen Wehrmacht und der SS zerstörte ostjüdische Welt des Schtetl und der jüdischen Viertel in den osteuropäischen Städten. Als ein Leuchtpunkt taucht diese verschwundene Welt in der Erinnerung der Shoah-Überlebenden Jakow und Luba an einigen Stellen auf. In einem Interview hat Fruchtmann darauf hingewiesen, es habe sowohl in der russischen als auch in der „jiddischen Kultur“ einen „Kult des einfachen Menschen“ gegeben.[2] 1920 veröffentlichte Arnold Zweig ein Buch mit dem Titel „Das ostjüdische Antlitz“. Im Kern ist dies eine schwärmerische, lyrisch-poetische Ausdeutung der beigegebenen 52 im nüchternen Schwarz-Weiß von Kohlezeichnungen gehaltenen Porträts ostjüdischer Figuren von Hermann Struck. In diesen Gesichtern erkennt Zweig ausnahmslos einfache, völlig transparente Menschen, „treuherzig und verträumt und von einer Reinheit, die sich nur erkauft mit Verzicht auf die breiten Tätigkeiten und das Glück der breiten Tätigkeit“,[3] Menschen, die sich bescheiden und leicht tragen an der „Pflichtenkette“[4] der Religion und der Familie. Für Zweig sind es daher die Ostjuden, die von den im Westen assimilierten Juden oft verachtet wurden, diejenigen, die den Kern des Judentums bewahrt haben. In einer der Bildbeschreibungen heißt es: „Die klaren stillen Augen und der Mund, der seine große Güte verschämt und weich hinter dem Barte birgt, sagen aus, daß hier noch die Ursprünglichkeit und Helligkeit aller Verpflichtung wacht. Nicht das mit genauer Wage [sic!] Abgezwungene ist hier die Pflicht, nicht jenes schamlos der Gemeinschaft zugebilligte  Mindestmaß von Leistung, das dem Leben des Westens seinen öden, kargen und nach Widerwillen schmeckenden Pflichtbegriff geschaffen hat […]“.[5] Den Idealtypus des Ostjuden, dem Zweig die „Selbstverständlichkeit eines kindlichen Menschen“ zuspricht, erklärt er zum Leitbild seines Neuen Judentums, das er am Ende des Buches verkündet und in dem Zionismus, Sozialismus und Jugendbewegung zu einer Synthese zusammengeführt werden.




Joseph Roth, der für die Filme Fruchtmanns eine eminente Quelle darstellt, versieht 1930 „Hiob“, seinen ersten großen internationalen Bucherfolg, mit dem Untertitel „Roman eines einfachen Mannes“. Sein Held, Mendel Singer, ist ein Musterexemplar des frommen, alle Gebetsordnungen und Familienpflichten sorgfältig achtenden, in äußerster Bescheidenheit mit den Seinen in den weiten russischen Westprovinzen klaglos lebenden Juden. Er ist ein Lehrer und unterrichtet in seinem einzigen Wohnraum eine Handvoll Schüler im Bibellesen. Die wenigen Kopeken, die ihm die Schüler mitbringen, sind für ihn und seine Familie das einzige Auskommen. Dennoch muss er eine ganze Reihe von Schicksalsschlägen hinnehmen. Bis nach Amerika, bis nach New York, wohin einer seiner Söhne ausgewandert und zu einem erfolgreichen Geschäftsmann geworden ist, verfolgt ihn das Unheil. Der Weltkrieg kostet seinen beiden Söhnen das Leben, seine Frau stirbt vor Schreck, als eine der Todesnachrichten eintrifft. Als seine Tochter dem Wahnsinn verfällt, bricht Mendel mit seinem Gott, beschimpft ihn, in ganz Russland gäbe es keinen „böseren“ Statthalter,[6] verflucht sein eigenes Leben, stellt das Beten ein und spricht kaum noch ein Wort. Am Ende geschieht ein Wunder. Sein jüngstes Kind, den das Ehepaar in Russland als krankes, unterentwickeltes, epileptisches Kind in der Obhut einer befreundeten Familie zurückgelassen und schon längst aufgegeben hatte, klopft eines Tages an die Tür als ein weltberühmter Musiker und Dirigent. Im einfachen Legendenton und einer virtuosen Gefühlsdramaturgie, die dem Kino abgeschaut ist, kehrt der ehemals gläubige Sozialist Joseph Roth voller Verzweiflung und Melancholie zu seinen Ursprüngen zurück, zum Judentum Osteuropas.

Den Typus des „einfachen Menschen“ löst der erklärtermaßen areligiöse Fruchtmann nicht völlig aus den religiösen Kontexten heraus. Am einfachen Menschen Jakow, der kaum eine richtige Schulbildung erfahren hat und schon mit 13 Jahren damit begann, als Bäcker zu arbeiten erweist sich, wie Fruchtmann zeigt, die ganze verbrecherische Unmenschlichkeit der SS, die ihm Dinge aufbürdet, „die kein Mensch tragen kann, ein einfacher Mensch noch weniger“,[7] die sein Leben auf immer verdunkeln. Und doch sieht Fruchtmann in Jakow eine chiliastische Dimension, er lasse trotz allem unfassbaren Leid einer “Art von Hoffnung noch Raum“.[8] Jüdisch-biblische Bezüge schwingen auch bei ihm stets mit.

Die besondere Nähe des Autors und Regisseurs Fruchtmann zu seinem Protagonisten Jakow Silberberg, die schon jetzt deutlich wird, beruht nicht zuletzt auf einem ähnlichen Erfahrungshintergrund. Fruchtmann, nur drei Jahre älter als Jakow, wurde 1915 als drittes Kind einer aus Galizien um die Jahrhundertwende in das thüringische Braunkohlenrevier eingewanderten jüdischen Familie geboren, die dort einen kleinen Lebensmittelladen gründete, der sich innerhalb weniger Jahre zu einem großen Kaufhaus mit mehreren Filialen entwickelte. Die Familie assimilierte sich rasch, aber die Herkunft, die ostjüdische Welt, blieb nahe. 1933 wurde die Existenz der Fruchtmanns zerstört. Am 1. April, dem Boykotttag jüdischer Geschäfte, Anwaltskanzleien und Arztpraxen wurde der Vater vor den Augen der Familie von einer SA-Horde so schwer misshandelt, dass er einen Herzanfall erlitt und nur wenige Tage später im Alter von 46 Jahren starb. Karl Fruchtmann musste das Gymnasium verlassen, in die Schweiz emigrieren, um dort 1936 die Abiturprüfung abzulegen. Er kehrte zurück, um der Familie beizustehen, wurde zusammen mit seinem Bruder Max in „Schutzhaft“ genommen und für beinahe ein Jahr in die Konzentrationslager Sachsenburg, ein wildes, improvisiertes Lager in einer aufgelassenen Textilfabrik in der Nähe von Chemnitz verschleppt, wo es zu zahlreichen Übergriffen der SS kam, und nach Dachau, das damals zum Musterlager für Tausende von Häftlingen ausgebaut wurde. Mit dem Gewaltakt wollten Gestapo und Justiz, die Hand in Hand arbeiteten, die „Arisierung“ des Kaufhauses erzwingen, den Verkauf zu einem lächerlich geringen Preis, der gerade ausreichte, um 1937 Karl und seinem Bruder Max das Exil in Palästina zu ermöglichen. Seinen Traum, zu studieren und einen künstlerischen Beruf als literarischer Autor, Theater- oder Filmregisseur zu ergreifen musste Karl aufgeben. Mit verschiedenen Jobs schlug er sich durch, diente in der israelischen Armee und machte schließlich in der Fluggesellschaft El Al eine bedeutende Karriere, stieg gar zum Leiter der Londoner Dependance auf. 1958 gab er den Manager-Beruf auf, kehrte nach Deutschland zurück, bewarb sich als Volontär beim WDR, wollte sich zum Fernsehregisseur ausbilden lassen, um mit 43 Jahren, in einem zweiten Leben, seinen Künstlertraum doch noch zu realisieren. Er wurde genommen, und bereits 1962 führte er zum ersten Mal Regie bei einem Fernsehspiel. Welche Themen ihn eigentlich bedrängen, hatte er schon durch seine Bewerbung kenntlich gemacht. Ihr war ein ausgefeilter Entwurf zu einem Fernsehfilm Das Kind beigefügt, der den Überfall der Wehrmacht auf ein jüdisches Dorf in der Ukraine zeigt, mit den Augen eines sechsjährigen Mädchens. Auf der ersten Seite des Manuskripts ist der Satz vermerkt: „Der Film soll in strenger Zurückhaltung und mit sparsamsten Mitteln im Tod eines Kindes bei den Judenmassakern während des Krieges an die gemordeten Opfer erinnern!“[9]

Die acht Filme, die Karl Fruchtmann beginnend mit Kaddisch nach einem Lebenden (1969) über die Shoah gedreht hat, bilden den Kern seines reichen Œuvres und strahlen auf das ganze Werk aus. Kein anderer deutschsprachiger Autor und Regisseur hat die Ermordung der europäischen Juden mit einer solchen Konsequenz und mit so unterschiedlichen Formen zu seinem Thema gemacht. Karl Fruchtmann ist der wichtigste Chronist und Erzähler der Shoah im deutschen Fernsehen.




Auch wenn Fruchtmann nie viel Aufhebens um seinen Aufenthalt im Konzentrationslager gemacht und stets geäußert hat, was er dort erfahren habe, sei geradezu „paradiesisch“  gewesen gegenüber dem, was die Häftlinge in Auschwitz erdulden mussten, so hat er doch die Schreckenswelt des Lagers, die absolute Rechtlosigkeit, die demütigenden Haftbedingungen, die Schutzlosigkeit und die beständige Angst vor der Gewalt durchlebt. EIN EINFACHER MENSCH ruft diese Erfahrungen auf wie auch die genaue Kenntnis der israelischen Gesellschaft und ihres Umgangs mit der Shoah, die Fruchtmann sich in zwei Jahrzehnten erworben hatte.

Wie in allen seinen Filmen so ist auch hier die Großaufnahme das entscheidende Instrument der Bedeutungsproduktion. In der Frühzeit des Fernsehens waren die talking heads wegen der kleinen Mattscheibe und der geringen Bildauflösung eine technische Notwendigkeit. Die so erzwungene Mikrodramatik der Gesichter fesselte Fruchtmann, und auch in Zeiten des hochauflösenden Fernsehens bewahrte er das physiognomische Erzählen und das nuancierte Mienenspiel. Für EIN EINFACHER MENSCH ergeben sich noch weitere Aspekte der Großaufnahme. Die in eine absolute Nähe gerückte Kamera bringt die uneingeschränkte Solidarität des filmischen Erzählers mit seinen Protagonisten zum Ausdruck, die Bereitschaft, jederzeit helfend beizustehen. Und sie artikuliert das Ziel des Ganzen: mit aller Konzentration ein Bildnis eines Menschen zu zeichnen, dem Unmenschliches widerfahren ist.

Zum anderen ist die extreme Nähe auch eine Wirkungsstrategie. Unverhohlen hat Fruchtmann bekannt, er wolle mit seinen Filmen über die Shoah dem Publikum, das offenkundig nicht geneigt war, sich der nationalsozialistischen Vergangenheit zu stellen, die Fluchtwege verbauen. Er konfrontierte die Zuschauer unmittelbar und direkt mit Bildern, die kein Ausweichen erlaubten. Schaut hin, so fordert er auf, schaut in die Augen dieses Gequälten, schaut in das Gesicht seiner Frau Luba, das gezeichnet ist von ihren furchtbaren Erlebnissen.

Fruchtmann behandelt in seinem Film eine Extremerfahrung der Vernichtungslager. Jakow Silberberg wurde 1942 in Auschwitz für „Sonderkommandos“ zwangsrekrutiert, eine verharmlosende Umschreibung einer grauenvollen Handarbeit des Todes, die die SS in letzter Konsequenz der Demütigung und Entmenschlichung von sich weggeschoben und den Opfern aufgebürdet hatte. Ausschließlich junge, kräftige jüdische Männer wurden ausgesondert, um die Leichen in ununterbrochenen Tag- und Nachtschichten aus den Gaskammern zu holen, in die Krematorien zu schleppen, sie im industriellen Maßstab „auszuwerten“ und sie dann spurlos zu beseitigen. „Das Schicksal der Sonderkommandos“, so der Soziologe Wolfgang Sofsky, gehört zu entsetzlichsten Kapiteln in der Geschichte der Todes- und Konzentrationslager.“[10] Die absolute Rechtlosigkeit der Häftlinge wurde zur Sklaverei verschärft, zu einer nie endenden Zwangsarbeit in ununterbrochenen Tag- und Nachtschichten. Keiner entging der Komplizenschaft des Terrors, das Mitwissen bedrohte jeden in jedem Moment mit dem Tod. Um dies alles auch nur halbwegs zu ertragen, musste jede Spur des Mitgefühls mit den Opfern getilgt und einer schrecklichen Indifferenz und Gleichgültigkeit weichen. Zudem wurden die Angehörigen der Sonderkommandos von ihren Mithäftlingen verachtet und gehasst, weil sie besseres Essen und Zivilkleidung erhielten, man erklärte sie zu Verrätern und Mitschuldigen.




Karl Fruchtmann ist einer der ersten, die sich mit diesem beengenden Phänomen auseinandergesetzt haben. Bei den Vorbereitungen zu der Dokumentation Zeugen stieß er auf die katastrophalen psychischen Folgen, auf die fortdauernden Leiden der Wenigen, die das Sonderkommando überlebt hatten. Er fasste den Entschluss, ein Massenpublikum davon in Kenntnis zu setzen. Erst viel später hat die historische Holocaust-Forschung sich diesem Thema zugewandt. 2002 veröffentlichte Eric Friedler zusammen mit Barbara Siebert und Andreas Kilian eine umfassende Untersuchung „Zeugen aus der Todeszone. Das jüdische Sonderkommando in Auschwitz“. Auf der Basis von zahlreichen Interviews mit den Überlebenden, auch mit Jakow Silberberg, führte er die Arbeit von Karl Fruchtmann fort und schloss 2000 mit der filmischen Dokumentation Sklaven der Gaskammer noch expliziter an ihn an.

Seiner Zeit voraus war Fruchtmann auch in der präzisen Darstellung, wie sehr die traumatische Extremerfahrung der Shoah auch die nachfolgenden Generationen in Mitleidenschaft gezogen hat. Sohn und Tochter von Jakow berichten eindrücklich von der Düsternis ihrer Kindheit, dass der Vater sich nie für sie interessiert, keine Gefühle gezeigt habe. Stets sei eine Aura des Todes von ihm ausgegangen. Als Beleg schneidet Fruchtmann Jakows versteinertes Gesicht und seinen tief melancholischen Blick dagegen. Der Roman „Der Boxer“ (1976) von Jurek Becker handelt von den schmerzhaften Folgen des Schweigens und der Verschlossenheit der jüdischen Überlebenden gegenüber ihren Kindern. 1980 hatte Fruchtmann diesen Roman verfilmt. Seit der Jahrtausendwende beschäftigt sich die Holocaust-Forschung intensiv mit dem ‚Vererbungseffekt‘ der Traumata von KZ-Überlebenden auf die nachfolgenden Generationen.

Vom Ansatz her ist EIN EINFACHER MENSCH ein Dokumentarfilm. Fruchtmanns physiognomisches Darstellungsverfahren wird hier eindeutig dokumentarisch definiert. Der Blick in die Kamera hebt die filmische Fiktion auf, alle Protagonisten repräsentieren sich selbst, wenden sich mit ihren Erfahrungsberichten in jiddischer Sprache frontal und direkt an die Zuschauer. Fruchtmann bedient sich der Techniken von Oral History und der Holocaust-Videoarchive und geht gleichzeitig weit auch über seine eigene zweiteilige Dokumentation Zeugen von 1981 hinaus. Wie dort bleibt er diskret im Hintergrund, ist weder sichtbar noch hörbar, gibt sich aber hier als ein starker Autor und Regisseur zu erkennen. Er spricht durch die Dramaturgie, durch die reflektierte Anordnung der Statements, durch die Montage und vor allem durch vielfältige Formen der Inszenierung. EIN EINFACHER MENSCH ist ein Dokudrama, ein Dokumentarspiel. Mit diesem damals oft praktizierten Fernsehgenre kennt Fruchtmann sich aus. Er hat Dokumentarspiele über den französischen Vichy-Kollaborateur Pierre Laval und Zweiteiler über Heinrich Schliemann und Émile Zola gedreht.

Gerade die Mischform, die Erweiterung des Dokumentarismus, macht die besondere Qualität von EIN EINFACHER MENSCH aus. Als der Film 1988 den Adolf-Grimme-Preis erhielt, war ich als junger Hochschullehrer Mitglied der Jury. Die Eingangssequenzen habe ich bis auf den heutigen Tag nicht vergessen. Schon das erste Bild sagt alles: eine Supergroßaufnahme von Jakow. Ein scharfes Seitenlicht teilt das Gesicht in zwei Hälften, in eine rechte hell ausgeleuchtete und eine linke verdüsterte. Bei der Selektion auf der Rampe von Auschwitz wurden die vorerst Geretteten auf der rechten, die sofort dem Tod Geweihten auf der linken Seite versammelt. In emblematischer Verdichtung ist zum Ausdruck gebracht, wie Fruchtmann in seinen Filmen oft die Überlebenden der Shoah definiert hat. Dem Tod, dem sie entronnen sind, entgehen sie dennoch nicht. Er wird immer wie ein Schlagschatten auf ihrem Leben liegen und sie zu Zwischenwesen machen, zu Gespenstern und Untoten, die nirgendwo zu Hause sind. Erst recht gilt dies für Jakow, der seit 17 Jahren nur in Nachtschichten in einer Großbäckerei arbeitet. Die subjektivierten Blicke der Kamera enthüllen, dass an diesem Ort alles an die Krematorien in Auschwitz erinnert: Die Flammen der industriellen Öfen, die Dampfwolken, die langen Reihen der Brotlaiber, die Massen an organischem Teig, die von Hand zu geflochtenem Hefegebäck geformt werden und an die Entformung im Akt des Verbrennens gemahnen. Diese Bilder erhalten ihre Ausdruckskraft nicht zuletzt dadurch, dass Fruchtmann hier auch über sein eigenes Überlebenstrauma spricht. „Aber für mich“, so äußert er in dem schon erwähnten Interview, „kann Feuer nie wieder das sein, was es vorher war. Für mich bedeutet Feuer Auschwitz. Auschwitz enthält Feuer.“[11] In einer langen Parallelfahrt begleitet die Kamera Jakow bei seiner Heimfahrt mit dem Fahrrad im Morgengrauen, vorbei an Zäunen und Mauern. Sie macht evident, was Luba ihm später vorhalten wird: „Du bist immer noch in Auschwitz“.

Die Dramaturgie ist so transparent, als würde der Film vor unseren Augen zusammengesetzt. Am Ende der Exposition, der Einführung der Protagonisten, ist die Erzählgegenwart erreicht. Wir sehen den 67-jährigen Jakow im Kreise seiner Familie an einem Festtagstisch. Die Enkelkinder stimmen mit rhythmischem Klatschen ein lustiges Lied an, mit einem zögerlichen Lächeln fügt sich auch Jakov in den Gesang ein. Ein Prozess der Öffnung hin zur Gegenwart, hin zum Leben hat begonnen.

In einer ganzen Reihe von Rückblenden wird dann die Jahrzehnte dauernde Phase des Rückzugs und der Erstarrung rekonstruiert. In dem Gespräch, das der Psychotherapeut versucht, wird erkennbar, dass Jakows Ehe zu zerbrechen drohte, weil Luba seine Wortlosigkeit und Lebensverweigerung nicht mehr ertragen konnte. Die Belehrung des Rabbi umreißt zugleich die Elemente des Judentums, die Fruchtmann zu seiner Grundüberzeugung und zum Programm seiner Filme säkularisiert hat: Helligkeit in die Dunkelheit der Welt bringen, Aufklärung betreiben, Nächstenliebe und Lebensbejahung zu den obersten Werten erheben. Aus den reflektierten Äußerungen von Sohn und Tochter ist ablesbar, dass Jakows Schweigen über das in Auschwitz Erlebte eine faktische Vaterlosigkeit erzeugte. Dieses Schweigen, selbst gegenüber den engsten Angehörigen, wurde noch verstärkt durch das kollektive Desinteresse an der Shoah in Israel nach 1945. Dazu schreibt der Holocaust-Forscher Raul Hilberg: „Die Nachkriegsstimmung in Israel und den Vereinigten Staaten war zukunftsorientiert […] So fand der Überlebende kein Publikum und oft fühlte er sich isoliert wie jemand, der nicht verstanden wird.“[12]




In Jakows Traum kündigt sich die Wende zu einer sich offenbarenden Rede an. Träume spielen in beinahe allen Filmen Fruchtmanns eine wichtige Rolle. Wer von Menschen authentisch erzählen will, der darf die andere, die unbewusste und unkontrollierte Seite ihres Lebens, die sich der Ratio und der Logik entzieht, nicht vernachlässigen. Davon ist er überzeugt. Indem er in unserem Film auch die Traumberichte seiner Protagonisten in filmische Bilder überträgt, überschreitet er am entschiedensten die Regeln des Dokumentarischen. Er wird damit auch dem vielfach belegten Faktum gerecht, wie häufig die Extremerfahrung der Konzentrationslager in den Träumen der Überlebenden wiederkehrte. Wie er diese Träume inszeniert, stellt seine überragenden Regiefähigkeiten unter Beweis. Kenntlich wird, wie intensiv er sich seinen Protagonisten zugewandt, wie genau er zugehört hat und in welch hohem Maße er ihr Vertrauen gewonnen hat. Es gab bei diesem Projekt kein Drehbuch im eigentlichen Sinne. Alles wurde vor Ort im Dialog mit allen Beteiligten entwickelt. Das hat mir der heute 95-jährige Kameramann Günther Wedekind mitgeteilt.

Ein wohl wiederkehrender Albtraum fasst die schreckliche Periode des Schweigens und der Einsamkeit noch einmal zusammen: auf einem riesigen Friedhof hasten und rufen Luba und die Kinder dem fliehenden Jakov hinterher. Es gibt aber auch ein träumerisches Vorzeichen auf den eigentlichen Höhepunkt des Films. Zwischen zwei Güterzügen treffen Jakow und Luba unversehens zusammen, fassen sich bei der Hand und gehen gemeinsam ihren Weg. Genau dies geschieht dann in den folgenden ineinander verflochtenen Erzählungen. Das Gewebe der Stimmen wird immer dichter, es sprechen aber nur noch Jakow und Luba im rhythmischen Wechsel. Sie legen offen, sie sehr sie einander benötigen, welche Last das Überleben von Auschwitz bedeutet, mit welchen Schuldgefühlen sie zu kämpfen haben. Alles Zögern hat Jakow abgelegt, er berichtet klar und gefasst über die Schreckenserfahrung des Sonderkommandos. Es wird spürbar, wie befreiend das Sprechen und das Gehörtwerden sind und dass es selbst für diejenigen, die gezwungen wurden, in die geöffnete Gaskammer zu blicken und mit dem millionenfachen Tod in physische Berührung zu kommen, ein Verstehen, eine Hoffnung auf Entlastung geben kann. Raum für die Hoffnung bietet vor allem Luba durch ihre Vitalität, ihren Überlebenswillen und ihr Lebensbegehren. Karl Fruchtmann war beeindruckt von der von der ungeschützten Offenheit, der Tiefe und Prägnanz der Rede, zu der diese „einfachen Menschen“ fähig waren und bezeugt ihnen seinen tiefen Respekt. Er zeigt, dass sie mehr sind als nur Opfer. Ich kenne keinen anderen Film über die Shoah, der den Überlebenden mit einer solchen Achtsamkeit und Sorgfalt so nahe kommt und sie gleichzeitig uns, den Zuschauern, so nahe bringt.

In einem Interview für das Pressematerial zu EIN EINFACHER MENSCH hat Fruchtmann sein Verfahren noch einmal erklärt: „Ich habe versucht, über ein lebendiges Gefühl der Verbundenheit und der Nähe so viel wie möglich von diesen Menschen zu erfahren. Aber auch da habe ich mir Grenzen gesetzt. Ich habe da Halt gemacht, wo es möglich gewesen wäre, Jakow zu einer noch intimeren, näheren und direkteren Schilderung dessen zu bringen, was er vergraben hat. Ich hätte ihn soweit bringen können, dass er die Herrschaft über sich selbst verloren hätte. Aber ich wollte keinen psychologischen Ausnahmezustand. Niemand kann wissen, wie Jakow danach hätte weiterleben können. Heute weiß ich: Er lebt besser als er vor diesem Film gelebt hat.“[13]

Und auch dieser leisen und vorsichtigen Kritik an Claude Lanzmann kann man nur zustimmen.

Ich wünsche Ihnen ein erkenntnisreiches Filmerlebnis. 

[1] Angaben bei: Nicky Rittmeyer: Chronik. In: Torsten Musial/Nicky Rittmeyer (Hg.): Karl Fruchtmann. Ein jüdischer Erzähler. München 2019. S. 207.

[2] Ein einfacher Mensch. Gespräch mit Karl Fruchtmann. In: Der dumme Fuß will mich nach Deutschland tragen. Eine Auseinandersetzung um Deutschland. Gespräche, Gedichte, Briefe. Ausgewählt und hg. von Nea Weissberg-Bob. Berlin o.J. (1991). S. 84.

[3] Arnold Zweig: Das ostjüdische Antlitz zu zweiundfünfzig Zeichnungen von Hermann Struck (1920).  Wiesbaden 1988. S. 14.

[4] Ebend. S. 16.

[5] Ebenda.

[6] Joseph Roth gebraucht das russische Wort „Isprawnik“. J. R.: Hiob. Roman eines einfachen Mannes. In: Romane, Erzählungen, Aufsätze. Köln/Berlin 1964. S. 271.

[7] Ein einfacher Mensch. Gespräch mit Karl Fruchtmann. S. 84.

[8] Ebenda.

[9] Abdruck des Manuskripts in: Torsten Musial/Nicky Rittmeyer (Hg.): Karl Fruchtmann. S. 141.

[10] Wolfgang Sofsky: Die Ordnung des Terrors: Das Konzentrationslager. Frankfurt a. Main 1997. S. 305.

[11] Ein einfacher Mensch. Gespräch mit Karl Fruchtmann. S. 79.

[12] Raul Hilberg: Täter, Opfer, Zuschaue. Die Vernichtung der Juden 1933-1945. Frankfurt a. Main 1996. S. 211.

[13] Jens Uwe Scheffler: Ein einfacher Mensch. Interview mit Karl Fruchtmann. Unpaginiertes Typoskript.