Gespräch mit Hans-Dieter Grabe: »Man ist allein und hat eine kleine Kamera«
Transkription eines Gespräches zwischen Hans-Dieter Grabe und Prof. Thomas Schadt – Teil 1
»Menschen sind für mich dann wichtig, wenn sie Dinge erlebt haben, die mitgeteilt werden müssen, weil sie gesellschaftliche Zustände zeigen«, sagte Hans-Dieter Grabe bei Dokville 2016 im Gespräch mit Prof. Thomas Schadt von der Filmakademie Baden-Württemberg. Fast 40 Jahre widmete sich Grabe jenen Zuständen detailliert, nämlich als Dokumentarfilmregisseur des ZDF. Opfer des Vietnamkriegs, ehemalige KZ-Häftlinge, Überlebende aus Hiroshima und Nagasaki, Ärzte, Mörder, Widerstandskämpfer, Mitläufer: Grabe hat sie filmisch begleitet – manche ein Leben lang.
Thomas Schadt:
Ich freue mich auch sehr, dass Du hier bist, Hans-Dieter. Ich versuch mal, dich ganz kurz vorzustellen: Hans-Dieter Grabe; für die, die es nicht wissen, 1937 in Dresden geboren. Dann mit den Eltern 1945 nach Cottbus gezogen. Dort sehr ungern in die Schule gegangen, wie du mir erzählt hast. Wofür er sich später bei der Stadt Cottbus entschuldigt hat. Was zum Ausdruck bringt, hast du auch gesagt, dass auch Städte Persönlichkeiten sind. Du hast angefangen an der heutigen HFF Film Universität Babelsberg damals Conrad Wolff in Babelsberg zu studieren. Bist dann mit einer Hand voll Adresszettel in den Westen und in München gelandet, beim Bayerischen Rundfunk. Hast dort zwei Jahre gearbeitet. Bist dann, als das ZDF gegründet worden ist, dort hin uns warst 40 Jahre in einer Festanstellung beim öffentlich-rechtlichen Sender. Du hast über 60 Filme gedreht – ein unglaubliches Werk und ein langes, sehr konstantes Leben als Dokumentarist. Wir wollen anfangen mit den Menschen, denn was alle deine Filme durchzieht, ist, dass der Mensch im Zentrum deines Interesses steht. Also entweder er selbst, wenn er lebt, oder eben durch das, was er hinterlassen hat. Auch dazu gibt es ja Filme wie “Er nannte sich Hohenstein”. Was muss ein Mensch haben, damit du sich damit du dich für ihn filmisch interessierst? Wobei das filmisch jetzt mal in Klammern steht.
Hans-Dieter Grabe:
Ich erlaube mir erst einmal meine Überraschung auszudrücken. Vielen Dank für die Einladung. Ich bin ja gern in Ludwigsburg und bin daran gewöhnt, vor einer kleinen Gruppe von interessierten Studenten deiner Schule zu reden
über meine Arbeit, aber nie in so einem Raum und nie vor so vielen Zuschauern. Es ist im Kino etwas ganz Besonderes. Vielen Dank dafür.
Menschen sind für mich dann wichtig, wenn sie Dinge erlebt haben, die mitzuteilen einem Zuschauer mir wichtig ist und ja auch mir was bedeuten. Und wenn es Probleme gibt, Inhalte, die ich glaubte eben in Filmen festhalten zu müssen, dann war es schön, wenn es mir gelang, dafür einen Mensch zu finden, den ich in Verbindung bringen konnte mit diesen Ereignissen, diesen Zuständen. Deswegen auch den Menschen in Vietnam, den kleinen Do-Shan aus dem Film »Nur leichte Kämpfe im Raum Da Nang«. Der beginnt sehr, sehr langsam, fast langweilig, weil ich ein Feind davon bin, Zuschauer hinein zu werfen in furchtbare Bilder. Und es gab natürlich furchtbare Bilder, in diesem Film von den schrecklich verstümmelten Menschen, die durch Schüsse und Granaten und Mienen zerstört worden waren. Und da legte ich Wert darauf, einen sehr ruhigen Anfang, um den Menschen nicht gleich diese Bilder um die Ohren hauen zu müssen. Und um auch keinen abzuschrecken davor.
Also dann trafen wir diesen kleinen Do Shan, von dem ich nie wusste, dass ich mal Jahre weiter einen Film machen würde. Er war 7, 8 Jahre alt auf dem Schiff. Er fiel uns immer schon auf, weil er trotz der Verletzung – er hatte eine furchtbare Unterleibsverletzung – sehr kontaktfreudig war. Er sprang herum, lernte schnell Deutsch, alle mochten ihn. Und man konnte glauben, diese Operation ist ja nicht so schwierig, er müsste bald wieder laufen können und normal leben können. Es sind Verletzungen, die ein Leben verändern ein Leben zerstören können. Und ich behielt ihn im Auge bis zu seinem Tod 35 Jahre später.
Thomas Schadt:
Wie hast du die Menschen gefunden, über die du Filme gemacht hast? Sind sie auch zu dir gekommen?
Oder du zu ihnen? Spielt der Zufall eine Rolle? Und was hat dir die Energie verschafft, dich auch oft über Jahrzehnte (ist ja jetzt nicht nur bei Do Shan der Fall sondern auch bei Mendel zum Beispiel), dass immer wieder auch den Weg zu ihnen gesucht hast?
Hans-Dieter Grabe:
Ja , also zu mir kam eigentlich kaum welche. Und wenn welche zu mir kamen, dann waren es nie die Richtigen. Das machten die die gefilmt werden wollten. Und der Zufall spielt natürlich eine Rolle. Ich hätte nie gewusst, dass der kleine Junge da auf dem Schiff mal Gegenstand einer Langzeitbeobachtung werden würde. Und bei Scheinfeld war es so, ich wollte eigentliche einen ganz anderen Film drehen. Ich traf ihn und merkte, ich dreh diesen Film nicht, diesen anderen, aber drehe einen Film über ihn. Diese Dinge können manchmal eine Rolle, wenn man weiß, was einem ein mancher geben könnte und was er einem selbst auch bedeutet.
Thomas Schadt:
Kannst du dich erinnern, was dich da so beschäftigt oder getrieben hat in der Situation und welche Entscheidungen getroffen, du getroffen hast, für deinen Film?
Hans-Dieter Grabe:
Wir hatten natürlich vor dieser Aufnahme viele andere gemacht, von ganz schrecklichen Verletzungen, die wir hier nicht sehen können. Also von daher wussten wir schon, was uns begegnen würde auf dem Schiff. Und genau das war ja der Grund, dahin zu fahren, einen Film zu drehen, darüber, was mit Menschen geschieht im Krieg. So gesehen waren diese Bilder für uns nicht so schlimm, im Gegenteil, man konnte eher glauben, der wird zu behandeln sein und es kann gut werden. Es gab natürlich verständlicherweise manchmal Zuschauer, die sagten: müsst ihr jemanden so darstellen? Ohne ihn zu fragen, seinen Körper zu zeigen, die Wunden zu zeigen. Und diese Fragen nehme ich sehr, sehr ernst, weil natürlich auch das Verhalten dem Menschen vor der Kamera gegenüber etwas sehr Wichtiges ist. Aber dann zu sagen, vielleicht nach den Aufnahmen, nein, also das geht so nicht und mit dem Arzt zu reden und zu sagen, bitte mach das doch so, das widerstrebt mir ebenfalls, das wäre eben auch etwas was den Patienten dann wiederum zu einem Schauspieler degradiert, ihn zu bitten irgendwas noch mal geschehen zu lassen und so gesehen glaube ich, schon das dem Zuschauer den Anblick von manchen Dingen einfach zumuten kann, wenn der Film deutlich macht, warum er das sieht und sehen soll.
Thomas Schadt:
Zu drehen ist ja das Eine, das heißt ja noch nicht, dass man es später öffentlich macht. Aber die Entscheidung im Schneideraum zu sagen, dieses Bild mache ich öffentlich, das hast du ganz bewusst vorgenommen.
Hans-Dieter Grabe:
Ja, wie hatten, kein anderes, und dann war es auch völlig klar, das zu nehmen, denn ich kann nicht einen Film machen über einen Menschen, ohne diese Szene, denn von der Szene geht aus das ganze Leben, die ganze Beeinträchtigung des Lebens. Er hatte diesen Beutel, den er tragen musste aufgrund des künstlichen Darmausgangs, bis zum Lebensende getragen. Als er starb, noch dazu am Tag, am Jahrestag der Beendigung des Vietnamkriegs, lag er in seinem Dreck, weil an einem Feiertag keine Schwestern da waren, die ihm hätten helfen können. Also dieser Beutel hat sein Leben beeinträchtig bis zum Ende. Und erstaunlich dann, wie er trotzdem die Kraft hatte, sich durchzubeißen, ein Leben zu führen, dass man nie geglaubt hätte, dass er es führen könnte.
Thomas Schadt:
War oder ist es das Filmemachen in solchen Situationen für dich dann auch ne Gradwanderung für dich selbst?
Hans-Dieter Grabe:
Eigentlich nicht, da ich, wie in dem Fall, genau diesen Film zu drehen hoffte. Ich war ja vier Jahre vorher schon in Vietnam gewesen und drehte die ersten Wochen der Arbeit auf dem Schiff. Das war in Saigon, wo eben niemals der Krieg so geführt wurde wie in Da Nam, und wir machten zwar eine Reportage, aber konnten nicht die Dinge zeigen, die ich dann zeigen konnte in Dan Nam. Und dann fuhr ich mit meinem Kollegen nach vier Jahren wieder da hin und drehte genau den Film, den ich drehen wollte.
Thomas Schadt:
Gab es so was Form wie eine Absprache? Habt Ihr kommuniziert in irgendeiner Form oder hat dein Kameramann dann das so gedreht, wie er es dann eben auch in der Situation für richtig hielt?
Hans-Dieter Grabe:
Also er wusste genau, worauf es mir ankam. Ich würde heute drauf Wert legen, dass man viele Dinge distanzierter dreht, aber damals war der Bildschirm noch sehr klein. Und darum waren Nahaufnahmen sehr wichtig. Heute würde ich die Distanz bevorzugen. Die große Frage war, was wird sein, wenn der Film abgenommen werden muss. Und das wichtige war nun, am Drehort nicht jetzt bereits an die Abnahme zu denken. Und beim Schreiben war es genauso, auch da wussten wir , wir würden vielleicht Schwierigkeiten kriegen. Und dieses Denken an die Schwierigkeiten veranlasste uns aber, gerade nicht dieser Furcht zu erliegen, sondern alles rein zu nehmen mit größter Deutlichkeit. Und manchmal, das kennst du vielleicht auch, kann es mal bei einem gelungenen Film passieren, dass ein Film für einen selbst argumentiert. Und das tat der Film bei der Abnahme. Es wurde keine Sekunde rausgenommen.
Thomas Schadt:
Wie führte dich denn dann der Weg zurück zu Do Shan?
Hans-Dieter Grabe:
Oder wieder zu ihm… Das ist wieder dieser halbe Zufall. Ich wusste dass, dass eine große Gruppe von zerschossenen Kindern zur Behandlung nach Deutschland gebracht wurden von einer Mitarbeiterin von Terres des Hommes. Und eine Gruppe von querschnittsgelähmten Kindern, die in Rollstühlen saßen. Und ich erfuhr, die sollen nach vier, fünf oder sechs Jahren Deutschland jetzt auf einem Mal fast unvorbereitet zurückkommen nach Vietnam. Aufgrund eines Abkommens zwischen Bonn und Saigon. Und ich dachte, da muss ich hin und zu sehen, wie das abläuft, was da gemacht wird?
Man hat diese Kinder behandelt – medizinisch, so gut wie möglich – aber jetzt begann eine Behandlung, die höchst fragwürdig war. Als ich dahin kam, um diesen Film zu recherchieren, vorzubereiten, traf ich Do Sanh. Und der war nicht zu übersehen, weil er nicht im Rollstuhl saß. Er humpelte zwar aufgrund einer Beinverletzung, aber er war da und er war kontaktfreudig und sprach so gut Deutsch, wie kein anderer und da lag es nah, dann den Sanh zum Mittelpunkt zu machen des Films. Der hieß dann »Shan und seine Freunde« – es war dann die Beobachtung einer Rückkehr nach Vietnam.
Thomas Schadt:
Was hat dich denn zu welchem Zeitpunkt dazu gebracht, selbst die Kamera zu machen?
Hans-Dieter Grabe:
Es war auch wieder so eine Art von Zufall. Ich bekam einige Zeit davor von meinen Söhnen eine kleine Videokamera geschenkt und die ermutigte mich, so eine Kamera in die Hand zu nehmen und zu probieren und ich sah also beeindruckend, wie man mit ihr arbeiten kann. Ich hatte es nie im Auge gehabt, selbst zu drehen, weil ich einen viel zu großen Respekt hatte vor der Kamera und der Arbeit der Kameramänner. Und nun ermutigte mich das kleine Ding, doch vielleicht mal zu sehen, ob man nicht damit die Möglichkeiten dokumentarischer Arbeit erweitern kann. Aber die Schwierigkeit lag nun darin, dass damals im ZDF so was zu machen sehr schwierig war. Es war ja alles eingeteilt in Abteilungen also Abteilung Kamera usw. Und die Produktionsleitung wollte ja nicht das Risiko eingehen, dass jetzt ein Autor, ein Redakteur, den Film versaut.
Und die Kameramänner sagten: »um Gottes Willen, jetzt drehen die schon selbst und wir kriegen die Schuld für den Mist«. Aber dann war es so, das die Marlies sagte, wenn da gedreht werden soll, dann höchsten nur wenn ein Mensch dabei ist, nämlich ich. Und so war ich legitimiert gegenüber meiner Anstalt und mir, den Versuch zu unternehmen,
jetzt zum ersten Mal selbst zu drehen.
Und es war, es war ganz schwierig, vor allem vom Ton her, weil ich den Lärm in diesem Saigon unterschätzt hatte. Es gibt keinen ruhigen Raum. Wir waren meistens in irgendwelchen Hütten, wo Spalten waren zwischen den Brettern. Es kam also der ganze Lärm, der Lärm der Mopeds und der Radios, alles kam rein und mein Richtmikro hat den Lärm nur verstärkt, statt mir zu helfen. Es war ein Mordslärm. Und dann wieder ein Zufall: Als dieses Gespräch stattfinden sollte, war gerade Pause, es war also einigermaßen ruhig und ich merkte, jetzt können wir vielleicht das Gespräch drehen.
Thomas Schadt:
Vielleicht noch ein kleiner Einschub: Diese Strukturen bei den Sendern, ich kann das nur bestätigen. Ich hatte mal das Angebot für den NDR eine Hausproduktion zu machen mit einem Hausteam und wollte selber die Kamera machen. Dann kam der Chefkameramann und sagte dann tatsächlich, dass es nicht geht: »Sie können gerne vier Kameraleute von uns haben, aber nicht keinen.«
Hans-Dieter Grabe:
Das wunderbare ist ja, man ist allein und hat eine ganz kleine Kamera, ist unauffällig und in so einem Falle ist es ja wichtig, dass die gedrehten Personen einen vergessen. Das wünscht man sich. Das Problem ist, dass sie auch nicht auf die Idee kommen zu sagen: »Moment, das was du da gemacht haben willst vor der Kamera, das wollen wir eigentlich nicht gezeigt haben.« Die sagen das nicht, sie sind nur mit ihren Gedanken beschäftigt. Und ich selbst bin ja beherrscht von meinem guten Glauben, ich mache einen engagierten Film.