Das Leipziger DOK Fest feiert in diesem Jahr sein 60. Jubiläum. Festivalleiterin Leena Pasanen meinte zur Eröffnung, es käme einem Wunder gleich, dass das Festival nach der Wiedervereinigung weitergeführt werden konnte und inzwischen weltweit zu den wichtigsten Dokumentarfilmfestivals gehört. Unser Kollege vor Ort hat erste Eindrücke von DOK Leipzig 2017 gesammelt.
Mehr Wahrnehmung, mehr Wertschätzung, mehr Publikum
Schon bei der Eröffnung war die momentan schwierige Situation des Dokumentarfilms in Kino und Fernsehen ein Thema. Prof. Monika Grütters, Staatsministerin für Kultur und Medien, betonte die Bedeutung des Dokumentarfilms und die starke Förderung durch das BKM: »Bei DOK Leipzig zeigen Filmkünstlerinnen und -künstler mit anspruchsvollen Dokumentations- und Animationsfilmen politisch Haltung und scheuen in der Auseinandersetzung mit der gesellschaftlichen Wirklichkeit weder Konfrontation noch Konflikte. Gerade heute, im Zeitalter digitaler Informationsfluten, brauchen wir den Dokumentarfilm mit seiner aufwändigen Recherche, seiner Erzählkunst und den atmosphärisch starken Bildern mehr denn je. Er macht Relevantes sichtbar und die Wirklichkeit in ihrer Vielschichtigkeit erfassbar. Das ist seine große Stärke! Von eben dieser Bereitschaft, sich mit der Wirklichkeit auseinanderzusetzen, lebt grundlegend auch die demokratische Debattenkultur. Deshalb verdient der Dokumentarfilm deutlich mehr Wahrnehmung, mehr Wertschätzung und mehr Publikum.«
Die Politikerin verband dies mit einem Appell an die Fernsehsender, diese gesellschaftliche Bedeutung des Dokumentarfilms auch stärker in ihrem Programm zu berücksichtigen. Dieser Forderung schloss sich die sächsische Kunstministerin Dr. Eva-Maria Stange an und wies darauf hin, dass das Festival regelmäßig mit seinem Programm auf aufkommende gesellschaftspolitische Fragen reagiere. In einer fundierten Rede vertiefte die Leipziger Kulturbürgermeisterin Dr. Skadi Jennicke diese politische Funktion in einer Gesellschaft, in der sachliche Grundlagen für eine Entscheidung an Bedeutung verlieren und auf Angst reagiert werde. Die sollte keine Rolle spielen bei Entscheidungen. Die Forderung nach Sicherheit müsse abgewogen werden mit der Freiheit des Einzelnen.
Für Chancengleichheit in der Filmbranche setzt sich Festivalleiterin Leena Pasanen seit ihrem Amtsantritt ein. Sie konstatierte: »Grundsätzlich ist die Präsenz von Regisseurinnen in unseren internationalen Wettbewerben relativ konstant. Sichtbare Schwankungen nehmen wir vorrangig im Deutschen Wettbewerb wahr. In diesem Jahr ist dort nur eine Filmemacherin vertreten, als Co-Regisseurin. Die gesamte deutsche Filmbranche ist in dieser Hinsicht von strukturellen Problemen durchzogen. Wir sind uns bewusst, dass wir ein Teil der Problematik sind und wollen uns daran beteiligen, dieses Ungleichgewicht aufzuheben. Daher werden wir für die nächsten zwei Jahre eine Quote für Regisseurinnen im Deutschen Wettbewerb einführen.« Sie sei sich bewusst, dass eine solche Entscheidung nicht von jedem gutgeheißen werde.
Der wechselvollen Geschichte und markanten Filmen des Festivals widmete sich das dreitägige Jubiläumsprogramm am Wochenende vor der Eröffnung. »Zwar gibt es in unserer unmittelbaren Umgebung keine physischen Mauern mehr, jedoch werden derzeit die ideologischen Mauern in den Köpfen vieler Menschen immer spürbarer«, so Leena Pasanen. »Wir brauchen DOK Leipzig als Plattform, um durch Filme besser zu verstehen, was um uns herum passiert.«
Mehr Geld für die Filmemacher gefordert
Das Thema der miserablen Bezahlung von Dokumentarfilm-Macherinnen und -Machern griff die AG DOK erneut auf. Filmemacher David Bernet (»Democracy – Im Rausch der Daten«) erläuterte noch einmal eine Erhebung, die unter den Nominierten des diesjährigen Deutschen Dokumentarfilmpreises erstellt wurde. Sie macht seiner Ansicht nach deutlich, dass es wichtig sei, sich über den eigenen Wert bewusst zu werden. Als erster Schritt wurde von einer Peergruppe ein Regie-Tagessatz von 750 Euro definiert. Konkret sollten alle drei Phasen der Produktion (Stoffentwicklung, Dreh, Postproduktion) mit jeweils 25.000 Euro dotiert werden. Diese Forderung korrespondiert mit den Gesprächen mit der ARD und den Produzentenverbänden zur Vergütung freier Regisseure für Fernsehproduktionen, die im Vergleich mit anderen Vergütungen ebenfalls auf einen Tagessatz von 800 Euro kamen, wie Benno Pöppelmann, Justitiar des Deutschen Journalistenverbandes, erläuterte. Claas Danielsen, früher DOK-Leipzig-Chef und inzwischen Geschäftsführer der Mitteldeutschen Medienförderung, bezeichnete die Forderung nach 75.000 Euro Honorar eine durchaus realistische Größenordnung. Als Leiter des Leipziger Festivals habe er die Erfahrung gemacht, dass nicht genug Zeit in die Stoffentwicklung und die Postproduktion gesteckt werde, da die Filme unterfinanziert seien. Als Förderung müssten sie natürlich auch die Situation der Produktionsfirmen im Blick haben. Von der schwierigen Situation im Moment konnte die Hamburger Regisseurin Susan Gluth berichten, die möglichst viele Aufgaben in der Produktion übernimmt, um so auf ein akzeptables Honorar zu kommen, womit sie allerdings an Grenzen der Belastung stoße.
DOK-Leipzig-Filmtipp: »Betrug«
Wie stark und vielfältig deutsche Dokumentarfilme trotz alledem sein können, davon konnte man sich in den ersten Tagen des Festivals überzeugen. Schon der Eröffnungsfilm »Betrug« von David Spaeth, der von Eikon Film produziert wurde, überzeugte durch seine außergewöhnliche, minimalistische Form. Ein selbstverwalteter Kinderladen in München Schwabing ist ein interessanter Mikrokosmos, bei der die Welt heil erscheint. Die besser verdienenden Eltern wollen das Beste für ihre Kinder. Sie freuen sich, als eine Neuer sich sehr engagiert in der Gruppe und das Amt des Schatzmeisters übernimmt. Allerdings fallen sie auf einen Hochstapler herein, der das wegen geplanten Umbaumaßnahmen gut gefüllt Vereinskonto plündert. Sehr konsequent kontrastiert David Spaeth, der selbst zu den Betroffenen zählte, die Aussagen des Betrügers mit denen der Eltern. Die Paare sitzen immer auf dem Wohnzimmersofa und haben meist ein modernes Gemälde an der Wand dahinter. Gemeinsam arbeiten sie den Betrug auf, wobei der ‚Täter‘ auch die Dreharbeiten geschickt nutzt, Verständnis für seine Tat zu wecken. Denn zunächst ging es ihm darum, von der Gruppe akzeptiert zu werden, was ihm als Arbeitslosen mit behinderten Kind sicher nicht so einfach gelungen wäre. Doch dann berauscht er sich am Rollenspiel des Erfolgreichen und fährt auch mal in einem Ferrari vor oder kredenzt Schampus und Kaviar zum Elternabend. Lange dauert es, bis er enttarnt wird. Ein sehr spannender Blick auf die bundesdeutsche Wirklichkeit.
DOK-Leipzig-Filmtipp: »Das Kongo Tribunal«
»Das Kongo Tribunal« von Milo Rau richtet den Blick auf den Bürgerkrieg und die Massaker im Kono, die bisher über sechs Millionen Tote gefordert haben. Allerdings wurde bisher niemand für diese Verbrechen belangt. Deshalb inszenierte Milo Rau ein symbolisches Tribunal im Kongo und in Berlin, bei dem viele der beteiligten Parteien und Experten verhört werden und eine internationale Jury ein Urteil spricht. Eine unglaubliche Kraft entwickelt der Film dadurch, dass er überwiegend im Kongo spielt und man als Zuschauer schnell vergisst, dass es sich um eine Inszenierung handelt und das Urteil zunächst keine Konsequenzen für die Täter haben wird. Das Wichtigste hat Milo Rau aber erreicht, dass nämlich über diese Verbrechen gesprochen wird und auch im Kongo die Bereitschaft wächst, die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen. »Das Kongo Tribunal« ist als multimediales Projekt. Es gibt ein Buch mit den Ergebnissen der Recherchen, eine Virtual-Reality-Installation und ein Game, bei dem man selbst die Massaker und das Tribunal »erleben« muss/kann. Der Film stieß in Leizig auf immenses Interesse in einem restlos ausverkauften Kino mit 700 Plätzen.
Am 22. November wird Produzent Arne Birkenstock »Das Kongo Tribunal« in der vom Haus des Dokumentarfilms (Stuttgart) und Filmkult angebotenen Filmreihe »DOK Premiere« im Ludwigsburger Caligari Kino vorstellen und für ein Filmgespräch zur Verfügung stehen.
DOK-Leipzig-Filmtipp: »Kolyma – Straße der Knochen«
Um eine dunkle Vergangenheit geht es auch in Stanislaw Muchas »Kolyma – Straße der Knochen«. Sowjetische Straf- und Arbeitslager wurden sozusagen am Ende der Sowjetunion, rund 5000 Kilometer östlich von Moskau eingerichtet in Jakutien. Es ist eines der kältesten Gegenden mit Permafrost und Temperaturen von minus 50 Grad. Die Strafgefangenen bauten eine Straße zwischen dem Ochotskischen Meer und der Hauptstadt Jakutsk. Allerdings wird dies von vielen verdrängt oder zumindest wollen sie davon nichts wissen. Stanislaw Mucha und sein Team begeben sich auf eine Reise auf dieser Straße, zeigen den Alltag heute und treffen viele kuriose Menschen. Denn bei aller Dramatik des Gulags gelingt es Mucha immer wieder, auch witzige Momente einzufangen. Dieser Kontrast ist wichtig, um das Elend ertragen zu können, unter denen diese Straße gebaut wurde. Eine besondere Herausforderung bedeutete die Temperatur auch für den Kameramann Enno Endlicher, da die Kamera eigentlich nicht funktionierte und extra gewärmt werden musste. Ein beeindruckender Film über die Gegenwärtigkeit der Vergangenheit, der dies in großen Bildern erzählt.