Was sieht der Zuschauer und was hat die Kamerafrau/der Kameramann gesehen? Was blieb unberücksichtigt von dem Zigfachen an Bildmaterial, das beim Drehen aufgenommen wurde? Wird das »Footage«-Archivmaterial jemals mehr sein als nur Bilder, die es nie in einen Film geschafft haben? Mit diesen Fragen hat sich Kirsten Johnson, die auf eine bald drei Jahrzehnte dauernde Karriere zurückblicken kann, anscheinend seit längerer Zeit beschäftigt. Ihr Film »Cameraperson« ist verdichtete Autobiografie und zugleich eine Beleg dafür, dass da mehr ist, als der Film zeigt. Arte präsentiert diesen vielfach preisgekrönten Dokumentarfilm in der Nacht zum Dienstag.
Arte, 0:20 Uhr: Cameraperson
Die amerikanische Kamerafrau Kirsten Johnson, die mit einflussreichen Regisseure wie Michael Moore, Kirby Dick und Laura Poitras gedreht hat, scheint eine lebenslustige Person zu sein. Immer wieder hört man sie in ihrem Film »Cameraperson« glucksen und lachen. Und mit der Kamera und dem Zuschauer spielt sie ein witziges Versteckspiel. Einmal, als sie die Aufnahmeoptik auf eine Herde vorbeiziehender Schafe gerichtet hat, huscht zwei Mal links ihre Hand ins Bild und zupft zwei Grashalme weg. Ein anderes Mal filmt sie eine wolkenverhangenen Unwetterhimmel. Erst rast ein Auto durchs Bild, dann fährt ein imposanter Blitz zur Erde, schließlich folgt unweigerlich der Donner – doch am beeindruckendsten ist das laute Niesen der Kamerafrau. In einen anderen Film hätte diese Naturgewalt wohl nicht Einzug gehalten.
Vieles von dem, was »Cameraperson« zeigt, ist für sich genommen nur ein »Athmoschnipsel«. Ein Flugzeug beim Landeanflug, ein tanzender Jugendlicher, in Nigeria wird ein Kind geboren. Hat das, fragt sich der geschulte Zuschauer? Oder gehören solche Aufnahmen nicht in den digitalen Papierkorb?
Es ist indes kein wildes Sammelsurium, das Kirsten Johnson zusammengestellt hat. Es ist ein komponiertes, mitunter dem Zufall überlassendes Erinnerungsalbum, das aber eines immer klar macht: die laufende Kamera verändert etwas. Mit dem, der sie hält und mit denen, die von ihr aufgenommen werden. Johnson geht es vor allem um die Beziehung zwischen Bildermachern und ihren Subjekten, dabei reflektiert sie über ungefilterte Realität und gestaltete Erzählung.
Der Dokumentarfilm war für 32 Auszeichnungen nominiert und gewann bis jetzt 22 Preise. Unter anderem wurde er mit dem Hauptpreis der Jury beim Sheffield Doc/Fest ausgezeichnet sowie für den besten internationalen Dokumentarfilm beim Zurich Film Festival 2016 und als Dokumentation des Jahres bei den London Critics Circle Film Awards 2017 nominiert.
Bei Dokville 2017, dem Branchentreff Dokumentarfilm des Hauses des Dokumentarfilms, war Kirsten Johnson am 20. Juni 2017 live per Skype-Interview zugeschaltet und berichtete dort über ihre Arbeit. Der untenstehende Videomitschnitt aus der Dokville-2017-Dokumentation zeigt das Gespräch zwischen der Filmemacherin und Kuratorin Astrid Beyer