In „Aufschrei der Jugend“ begleitet Kathrin Pitterling Fridays for Future-Aktivist*innen aus Berlin. Wie die Protestarbeit und Corona die jungen Menschen verändert und was sie selbst beim Dreh gelernt hat, erzählt die Filmemacherin im Interview.
„Unsere Zukunft, braucht die jemand oder kann die weg?“ Das ist die zentrale Frage der ARD-Themenwoche 2020: #WIE LEBEN – BLEIBT ALLES ANDERS vom 15.-21.11.2020. Eine klare Meinung dazu haben die Protagonistinnen und Protagonisten in Kathrin Pitterlings Dokumentarfilm „Aufschrei der Jugend“, die sich unermüdlich für das Klima einsetzen. Gezeigt wird der diesjährige Gewinner des ARD-Doku-Wettbewerbs „Top of the Docs“ am Mittwoch, den 18. November 2020, um 23.20 Uhr im Ersten.
Kathrin Pitterling („Aufschrei der Jugend“) im HDF-Interview
Mit viel Herzblut hat die Filmemacherin Kathrin Pitterling zwölf Jugendliche aus Berlin bei ihrer Protestarbeit begleitet. Was ihr dabei wichtig war und wer diese jungen Akteurinnen und Akteure sind, verrät sie im Interview mit Stefanie Roloff vom Haus des Dokumentarfilms.
Für Ihren Dokumentarfilm „Aufschrei der Jugend“ haben Sie seit Anfang 2019 Berliner Protagonistinnen und Protagonisten von Fridays for Future begleitet. Wie haben Sie die jungen Menschen erlebt und was treibt diese an?
Das ist die große Frage, die mein Film „Aufschrei der Jugend“ beantworten möchte. Im Februar 2019 nahm ich an einem internen Plenum der Fridays for Future-Bewegung in Berlin teil. Die Art, wie sich die Jugendlichen selbst organisierten, ihre Themen planten und reflektierten, finde ich nach wie vor extrem beeindruckend. Über den Verlauf des Films gab es viele hochemotionale Momente: Von großer Freude im September 2019, als auf einmal 270.000 Menschen demonstrierten, bis hin zu extrem schmerzhaften Momenten. Momente, in denen die Jugendlichen begreifen mussten, dass sie von der Politik nicht ernst genommen werden. Sie mussten viele innere und äußere Kämpfe ausfechten.
Wie kamen Sie auf die Idee zu „Aufschrei der Jugend“?
Ich war in Berlin und hatte von Greta gehört. Aber das war weit weg. Dann hörte ich, dass auch in Berlin Schüler und Schülerinnen an den Demos teilnehmen und am Freitag nicht in die Schule gehen. Das erschien mir so ungeheuerlich in unserem Schulsystem, dass ich genauer wissen wollte, was da passiert und wer das ist. Als ich dann die Chance bekam, auf eines der ersten internen Plena zu kommen, habe ich die Jugendlichen erlebt und direkt gewusst, dass ich das festhalten möchte.
Wer sind die Protagonistinnen und Protagonisten in ihrem Dokumentarfilm?
Ich habe nicht gezielt gecastet, wie man es auch bei Dokumentarfilmen gerne macht. Stattdessen habe ich vor allem die Menschen eingefangen, die mir beim ersten Treffen begegnet sind. Begleitet habe ich zwölf Jugendliche. Die meisten von ihnen waren damals zwischen 14 und 17 Jahre alt. Zum Beispiel Elias, 14 oder Silvan, auch 14 – beides sehr unterschiedliche, starke Menschen. Oder Clara, die etwas später dazukam und sich mit viel Engagement eingebracht hat. Damals hielt sie auf der Aktionärshauptversammlung bei VW eine Rede. Dabei musste sie erleben, wie Begeisterung in Negativerfahrungen umschlägt. Sie erhielt Hassmails und fühlte sich von der Presse gestalkt. Wahnsinnig interessant ist auch Willi, 17. Er spielt die erste Geige im Jugendorchester. Wir sehen ihn im Film aber auch bei Extinction Rebellion. Das sind nur einige Beispiele. Ich wollte im Film nicht die klassischen Protagonisten haben. Luisa Neubauer ist zwar dabei, sie steht aber nicht im Mittelpunkt. Mir war wichtig, die Menschen dahinter zu sehen.
Wie konnten die jungen Klimaaktivisten in Zeiten von Corona weiter wirken?
Der Fridays for Future-Bewegung ist mit den Auswirkungen der Pandemie das Forum weggebrochen, das Auf-die-Straße-gehen. Die Jugendlichen haben am Anfang Netz-Streiks gemacht und dort ihre Plakate gepostet, um sich zu verbinden und in Kontakt zu bleiben. Aber natürlich stand die Frage der Sichtbarkeit im Raum. Dann gab es im April diese wunderbare Plakat-Aktion vor dem Reichstag. Sie entstand spontan und wurde innerhalb einer Woche umgesetzt. Wir konnten diesen Prozess von der Idee bis zu dem Moment begleiten, als sie die Plakate feststeckten und der erste Wind aufkam und sie darum bangten, dass die Plakate nicht wegflogen. Der Bewegung ist bewusst, dass sie sichtbar bleiben muss. So haben sie sich auch am 25. September 2020 auf die Straße gestellt unter unfassbar akkuraten Corona-Regeln. Ich habe ein Mädchen gesehen, das bei Regen seit 6 Uhr morgens mit Mehl und einem Löffel die Abstände auf der Straße des 17. Junis markiert hat. Man merkte: Es ist hart, aber sie geben nicht auf.
Welche Auswirkungen hatte die Corona-Krise auf Ihre filmische Arbeit?
Ich habe immer WhatsApp-Kontakt zu den Jugendlichen gehabt. Ein wichtiger Teil des Films sind ohnehin ihre Video-Selfies. Ich habe die Teilnehmenden von Anfang an ermutigt, mir darin zu erzählen, was in ihnen vorgeht und was gerade passiert ist. Das hat auch während der Corona-Zeit viel Nähe geschaffen. Es gab trotzdem einen Augenblick, in dem wir überlegt haben, ob wir weiterdrehen können. Dann haben wir die ersten weiterführenden Interviews und auch die Vorbereitungen der Aktion im April mit ganz kleinen Teams, Maske, Desinfektionsmittel und Abstand gedreht. So haben wir es geschafft, diese einzigartige Situation einzufangen. Ich habe nicht das Gefühl, dass dadurch eine Lücke im Film entstanden ist – im Gegenteil.
Was sind Ihrer Meinung nach die größten Stärken, aber auch Schwächen von Fridays for Future?
Ihre Ernsthaftigkeit und Energie sind große Stärken, auch die Fähigkeit, offen zu bleiben und immer wieder Lösungen für neue Herausforderungen zu finden. Über die Zeit des Filmdrehs gab es die zweite, dritte und vierte Generation von jungen Menschen, die dazugekommen oder wieder weggegangen sind. Es gab viele, die erschöpft waren – bis hin zum Burnout. Gleichzeitig brachten die Neuankömmlinge Kraft und neue Ideen. Dabei treffen ganz unterschiedliche Persönlichkeitstypen aufeinander, was natürlich auch zu Konflikten führt. Und toll ist diese Jugendlichkeit, die Freiheit zu sagen: „Wir versuchen es jetzt! Wir melden eine Demo an“, ohne sich davon abhalten zu lassen, was klappen kann und was nicht.
Hat die Bewegung eine Zukunft?
So wie ich diese Menschen kennengelernt habe, bin ich mir ganz sicher. Nehmen wir zum Beispiel Elias, der am Anfang eine Zahnspange trug und überlegte, ob er überhaupt Videoselfis drehen oder doch lieber Tagebuch schreiben möchte. Am 25. September dieses Jahres stand er, anderthalb Jahre älter, auf der Bühne vor Tausenden Zuschauern und hielt ganz frei Reden. Wenn ich Menschen wie ihn erlebe, weiß ich: Sie machen weiter, auch wenn es viel Kraft kostet. Ich hoffe, dass mein Film „Aufschrei der Jugend“ zeigen kann, dass Fridays for Future viel mehr ist, als freitags auf die Straße gehen.
„Aufschrei der Jugend“ ist der diesjährige Gewinner des ARD-Doku-Wettbewerbs „Top of the Docs“, was dessen Realisierung unterstützt und ihm einen Sendeplatz in der ARD gesichert hat. Wie hat es sich angefühlt, diesen Preis zu erhalten?
Ich fand es beachtlich, dass die ARD dem Film diesen Preis verliehen hat. Denn zum Zeitpunkt der Verleihung im Februar 2020 waren alle völlig übersättigt von diesem Thema. Damals war Fridays for Future ein Jahr im Gange. Jeder hatte davon gehört, der Neuigkeitswert war gleich null. Dann zu sagen: Wir geben einem Film die Chance, genauer hinzuschauen. Das hat mich wirklich überrascht und glücklich gemacht.
Sendetermine des Dokumentarfilms „Aufschrei der Jugend“
Erstausstrahlung im TV: Den Dokumentarfilm „Aufschrei der Jugend“ zeigt das Erste am Mittwoch, den 18. November um 23.20 Uhr. Seit dem 11.11.2020 ist er auch in der ARD-Mediathek verfügbar. Am 19.11.20 gibt es eine Wiederholung um 03.45 Uhr.