In seinem Dokumentarfilm »Wochenendkrieger« aus dem Jahr 2013 erzählt der aus dem Schwäbischen stammende Regisseur Andreas Geiger von unserer Welt, die dennoch ganz anders zu sein scheint. In ihr werden Bürger für ein paar Tage zu Helden und Monstern. Sie campieren, interagieren, kämpfen und haben alle das gleiche Ziel: eine Fantasiewelt, die sonst nur im Kopf existiert, so real wie möglich werden zu lassen. In der Nacht zum Freitag im Hessischen Fernsehen (HR).
HR 0 Uhr: Wochenendkrieger
Dass hinter der Fassade manch eines braven Bürgers ein Monster lauern kann, hat uns die Literatur schon oft gelehrt. Man denke nur an Hans Fallada und seine kleinbürgerlichen Horrorgestalten. Dass ein braver Bürger unter Monstern zum Helden werden kann, ist eine andere Geschichte. Die hat John R.R. Tolkien in seinem Buch »Der Herr der Ringe« so eindringlich erzählt, dass sein Buch heute zu den meistgelesenen zählt und er zugleich das lukrative Fantasy-Genre erfunden hat.
Andres Geiger, der mit seinem Film »Heavy Metal auf dem Lande« schon 2006 eine Rock-Monsterwelt im schwäbischen Kernland beschrieb, hat siebe Jahre Arbeit in »Wochenendkrieger« gesteckt. Es ist ein Dokumentarfilm geworden, der sich den Live-Rollenspielen und ihren Protagonisten widmet. Rund eine Viertelmillion Fans dieser Ganzkörperspiele soll es allein in Deutschland geben. Sie treffen sich zu organisierten Conventions – eine Art Zeltlager mit stundenlangen Spielszenen, bei denen alle Teilnehmer in ihren Fantasiefiguren mitmachen. Zuschauen gibt es nicht, jeder wird Teil des Spieles. Die üblichen Genrevorbilder – geprägt von Büchern und Filmen – entstehen dort aus Stoff, Schminke und Plastikmasken: Orks, Elfen, Zwerge, Untote, Feen und alles, was die Fantasie der Mitspieler hergibt. Und ihre Geldbeutel. Denn an LARPs (Live Action Role Playing) kann man zwar schon mit ein paar alten Fetzen teilnehmen, für die passende Illusion aber bedarf es erheblicher Maskerade. Die Kostüme sollen keine Verkleidung sein, sondern einen Menschen von seiner Alltagsgestalt in seine Fantasyrolle bringen, die er dann möglichst perfekt und 24 Stunden am Tag ausfüllen möchte.
Fünf Protagonisten hat sich Geiger ausgesucht, die er teils in ihrer Alltagswelt und teils in Mythodea begleitet, einer enttechnologisierten Fantasiewelt, in der Mut und Kraft zählen, Magie, Wunder und Aberglaube miteinander ringen und Dinge passieren, die (scheinbar) nur ansatzweise einem Drehbuch folgen. Chris beispielsweise ist Lehrerin an einem Gymnasium in Tübingen und wird beim Spiel zu einer machtvollen, aber bösen Herrscherin namens Aniesha Fey. Sven, ein Montagearbeiter bei VW, in dessen Bauch locker vier Hobbits Platz fänden, verwandelt sich in einen simplen, aber zugleich respektierten Fantasy-Ökologen – in den mit Eiterbeulen gezeichneten Gärtner der öligen Pestilenz. Der im politischen Berlin arbeitende Dirk muss bei den Grünen auch Ideen für vegetarische Kantinentage mittragen, wird in Mythodea aber zum Herrscher des Untoten Fleisches. Eine Handvoll Rollen aus rund 7000, die sich jährlich im Steinhuder Meer auf einem alten Rittergut treffen, um für ein paar Tage real werden zu lassen, was sonst nur mediale Zauberei ist.
Geigers Kamera fängt das für Außenstehende kaum begreifbare Geschehen mit großer Liebe zum Detail und mit Sympathie für seine Protagonisten ein. Kein störender Misston fällt – das böse Wort vom »Eskapismus«, sonst ein Standardbegriff, wenn es um die Darstellung von Fantasy-Rollenspielen geht, bleibt außen vor. In der intensiven Montage gelingt es dem Film, die beiden Erzählebenen – hier der Alltag, dort das Spiel – so zu vermischen, dass den Zuschauern die Motive der Spieler begreiflich werden. In keiner Sekunde werden sie als Realitätsflüchtlinge bloßgestellt, stattdessen wird ihre zweifelsohne große Kreativität bei der Gestaltung und Darstellung fremder Figuren sichtbar.
Regisseur Geiger hat es gut gemeint mit diesen Wochenendkriegern, die in Wirklichkeit ja Helden des Alltags sind, weil sie dem Opium des Volkes entsagen und statt als Couch-Potatoes zu enden, lieber »in Maske« auf Stoppelfeldern herumrennen. Die Liebe des Filmes für ihr Faible geht so weit, dass durch eine bombastische Musik, durch ein verstärkendes Sounddesign und vor allem durch eine bassbetonte Off-Stimme die Darstellung der Realität zurücktritt.
Der Film versucht, die Fantasie real werden zu lassen, indem er zwischen Dokumentar- und Spielfilm mit Laiendarstellern wechselt. Geiger hat laut eigener Bekenntnis nur ein einziges Mal selbst an einem solchen Live-Rollenspiel teilgenommen. Noch am gleichen Abend sei sein Charakter getötet worden. In seinem Film bekennt er sich dennoch zu dieser überbordenden Form des kreativen Gruppenspiels. In der aufwendigen Postproduktion wird sein Dokumentar- zum Fanfilm.
So fehlt am Ende von 94 unterhaltsamen Minuten für manchen Zuschauer wohl auch die nötige Distanz und der Überblick. LARP ist weit komplexer als es »Wochenendkrieger« verspricht. Allein das Einstiegsregelwerk ist 70 Seiten stark. Eine der ersten Fragen des Premierenpublikums will dann auch doch noch einmal den Hintergrund des Ganzen erklärt bekommen. Hier leistet der Film nur ansatzweise, was man von ihm erwarten könnte. Stattdessen hat sich der Regisseur entschlossen, eng bei den Protagonisten zu bleiben. Sie werden zu Akteuren, die sich Beifall verdienen.
Ihr Mut zur Fantasie, sagt eine Spielerin, helfe ihr auch im realen Leben, bewusster auf Menschen zuzugehen.
Was vor allem in Erinnung bleibt, ist ein »magischer Moment«, wie es Werner Herzog nennen würden: Da hört man den VW-Monteur Sven ein selbst komponiertes Lied singen. Realität und Fantasie vermischen sich, gleiten zur Seite und geben den Blick auf einen Menschen frei, der auf seine Weise den Weg zu einem selbstbestimmten Leben gefunden hat. Es ist, das beweist der Film eindringlich, keine krankhafte Flucht, sondern ein Weg zu sich selbst.
Ein solcher Mensch ist ein Held.