71. Berlinale: Über Macht, die Pandemie und das Private
Die Sektionen Forum und Forum Expanded stehen traditionell für ästhetisch und thematisch anspruchsvolle Produktionen aus der ganzen Welt – oft mit dokumentarischem Fokus. Wir haben einige dieser Berlinale-Dokus gesichtet und im Artikel zusammengestellt.
Die Macht, Bäume zu versetzen in „Taming the Garden“
Nicht vom Glauben, sondern vom Willen und ökonomischer Macht, die Bäume versetzen können, erzählt die georgische Filmemacherin Salomé Jasi in „Taming the Garden“, eine schweizer-deutsch-georgische Koproduktion. Der Milliardär Bidsini Ivanishvili hat das extravagante Hobby uralte Bäume zu sammeln und in seinen Park zu versetzen. Sie müssen mindestens 100 Jahre alt sein.
Bäume versetzen – ein langer Prozess
In Georgien ist Bidsini kein Unbekannter. Er gründete die Oppositionsbewegung „Georgischer Traum“ und war 2012/2013 für ein Jahr Regierungschef. Doch diesen Aspekt lässt die Regisseurin außer Acht. In ruhigen Bildern zeigt sie den Aufwand, der für die Verpflanzung der Bäume notwendig ist. Um die Wurzeln nicht zu beschädigen, werden sie mit 10-15 Metern Erde um sie herum ausgegraben. Unten werden Röhren eingetrieben, um den Baum – mit bis zu 1.000 Tonnen Gewicht – zu heben und auf einen Transporter laden zu können. Für diesen Prozess müssen Straßen gebaut und für den Schwertransport präpariert, andere Bäume gefällt oder neue Straßen und Kais ins Meer gelegt werden. Dieses Bemühen wirkt besonders kurios, wenn die Bäume aus genau der Landschaft herausgenommen werden, wo es doch überhaupt keine Infrastruktur dafür gibt.
Vielschichtige Meinungen im Portrait
Salomé Jasi konzentriert sich auf die Arbeiten, Kommentare der Arbeiter und der Bevölkerung. Die einen freuen sich über die neue Straße und halten den einzelnen Baum für verzichtbar, die anderen erinnern an die Bedeutung dieses Baums für das Dorf und trauern ihm regelrecht nach. Und es geht natürlich auch um Geld für den Baum und die Nutzungsrechte auf den Grundstücken.
Bisher stärkster Dokumentarfilm der 71. Berlinale: „Taming the Garden“
Der Film ist bisher einer der stärksten im Berlinale Programm, denn er erzählt eine unbekannte Geschichte in starken Bildern. Am Anfang und am Ende wird zurückhaltend klassische Musik mit Gesängen eingesetzt, sonst gibt es nur den O-Ton und keinen Kommentar. Die Bilder von den Bäumen auf der Straße und auf dem Meer werden im Gedächtnis bleiben. Am Ende gewährt sie einen Einblick in den Park, der zeigt, wie immens viele Bäume Ivanishvili schon hat versetzen lassen. Sie sind ein Statussymbol seiner Macht.
„The First 54 Years“: Die Macht, Gebiete zu besetzen
Hart ins Gericht mit der israelischen Besatzungspolitik im Westjordanland und dem Gazastreifen geht der Regisseur Avi Mograbi mit seinem neuen Dokumentarfilm „The First 54 Years – An Abbreviated Manual for Military Operation“. Anhaltspunkt ist dabei das Handbuch der israelischen Armee für militärische Operationen. Im Prinzip nutzt Mograbi drei Stilmittel: Zum einen seine eigenen Kommentare zur Strategie, die er direkt in die Kamera spricht. Zum anderen viele Interviews mit ehemaligen Soldaten – teils anonymisiert – die an der praktischen Umsetzung des Handbuchs während der Auseinandersetzungen in den seit 1967 besetzten Gebieten beteiligt waren.
Ausnahmslos kommen nur Männer zu Wort, obwohl es viele Frauen in der israelischen Armee gibt. Als drittes Element kommt historisches Material von diesen Aktionen zum Einsatz, das häufig stumm und ohne Musik gezeigt wird. Die Aussagen der israelischen Soldaten entstanden für die Organisation ‚Breaking the Silence‘, die es sich zum Ziel gesetzt hat, Fehlverhalten des Militärs offenzulegen.
Gewalt, Willkür und Grausamkeit in „The First 54 Years“
Wobei der Film zeigt, dass es sich aus militärischer Perspektive nicht um Fehlverhalten handelt, sondern um Versuche, die besetzten Gebiete zu kontrollieren und Widerstand zu brechen. Dabei wird die zunehmende Gewalt, die alltägliche Willkür und auch Grausamkeit überdeutlich. Mograbi zeichnet in „The First 54 Years“ die drei Phasen der Entwicklung nach: von der Besetzung (1967-1987), dem Verlust der Kontrolle nach der ersten Intifada (1987-2000) und letztlich dem völligen Kontrollverlust nach 2000. Es bleibt nur noch die Strategie der verbrannten Erde und völligen Zerstörung. Viel Hoffnung auf Versöhnung bleibt da nicht.
Solidarität statt Macht in Doku „Garderie Nocturne“
Von großen Zukunftsperspektiven weit entfernt sind die Protagonistinnen in „Garderie Nocturne“ aus Burkina Faso. Odile und Farida wohnen zusammen in einer bescheidenen Hütte mit spartanischer Einrichtung. Als Sexarbeiterinnen haben sie beide kleine Kinder und leben von einem Tag zum nächsten. Abends bringen sie den Nachwuchs zur alten Frau Coda, die auch die Kinder von anderen Frauen betreut.
Vertrauen schafft gelungenen Film von Moumouni Sanou
Dem Regisseur Moumouni Sanou ist es über Jahre gelungen, ein enges Vertrauensverhältnis zu den Frauen aufzubauen und den Film über sie auf Augenhöhe zu drehen. Es ist sein Debütfilm im langen Format. Eine besondere Herausforderung war dabei sicherlich, dass der Film überwiegend nachts spielt und die Drehorte entsprechend beleuchtet werden mussten. Die Aufnahmen hat Piere Laval gestaltet und fängt ihren Alltag unspektakulär ein. Er ist nahe an den Protagonistinnen, die sich über Gott und die Welt unterhalten.
Verantwortung übernehmen als Thema in „Zahlvaterschaft“
Um das Erbe der deutschen Kolonialgeschichte geht es in dem schwarzweißen Kurzfilm „Zahlvaterschaft“ von Moritz Siebert. Der deutsche Amtsarzt Liebl war von 1908-1911 in der damaligen Kolonie Togo. Er verliebte sich in die Tochter eines dortigen Häuptlings. Sie heirateten und bekamen einen Sohn. Der Arzt hinterlegte 1.000 Reichsmark für seine afrikanische Familie und regelte die Auszahlung sehr präzise. Damit war für ihn die Sache erledigt.
Der Kampf seines Enkels
Sein Enkel kämpft nun seit 30 Jahren um die Anerkennung als deutscher Staatsbürger, die ihm von der Ausländerbehörde verwehrt werden. Auch Eingaben an den Petitionsausschuss des Bundestages blieben erfolglos mit der Begründung, dass es sich nach den damaligen Gesetzen nur um eine ‚Zahlvaterschaft‘ handeln würde. Gerson Liebl versucht nun mit einem Hungerstreik auf seine Situation und seine Forderungen aufmerksam zu machen. Moritz Siebert begleitet seinen Hungerstreik und ergänzt die statisch aufgenommen Bilder mit Zitaten aus historischen Dokumenten und den Beschlüssen der verschiedenen Instanzen. Schließlich bietet die Ausländerbehörde Geron Liebl eine Duldung an, die er ablehnt. Er besteht auf eine deutsche Staatsbürgerschaft. – Ein aussichtsloser Kampf.
„A River Runs, Turns, Erases, Replaces“ über die Macht des Virus
Die chinesische Stadt Wuhan wurde 2020 weltweit bekannt als der Ort, wo die Corona-Pandemie ihren Ursprung hatte. Der ruhige Dokumentarfilm „A River Runs, Turns, Erases, Replaces“ von Shengze Zhu entzieht sich jeder Form einer sensationsheischenden Berichterstattung. In langen, statischen Einstellungen zeigt er die Stadt vor und nach der Krise.
Statische Aufnahmen als subtile Botschaft
Er beginnt mit Aufnahmen einer Überwachungskamera, die eine nahezu leere Straße im März und April 2020 zeigt. Die Straßenkehrer kommen regelmäßig und säubern den Gehweg. Am 4. April wird mit Sirenen das Gedenken an den Ausbruch eingeläutet. Die Menschen bleiben stehen, andere rennen herum, um den Moment in möglichst eindrucksvollen Fotos zu dokumentieren. Zentrale Einstellungen ist immer wieder der Fluss und die Baustellen der Stadt. Vier Briefe werden verlesen, die an einen Partner, an die Großmutter, den Vater und eine Tochter gerichtet sind, die der Pandemie zum Opfer fielen. Dies macht sehr subtil aufmerksam auf die Verluste und darauf, dass nichts mehr so sein kann wie vorher.