In der Sektion „Retrospektive“ bietet die DOK Leipzig eine Werkauswahl aus DDR und BRD mit Rückblicken auf die nationalsozialistischen Verbrechen in der Shoa. Neben Filmen wie „Die Judengasse“ oder „Nuit et brouillard“ gibt es vor Ort begleitende Experten-Gespräche.
„Die Juden der Anderen. Geteiltes Deutschland, verteilte Schuld, zerteilte Bilder“
Eigentlich war das Programm „Die Juden der Anderen“ der Sektion „Retrospektive“ schon für das DOK Leipzig 2020 geplant, war aber wegen hybrider Ausgabe nicht umsetzbar. Nun läuft die „kontrapunktische Zusammenstellung“ an Dokumentationen aus der DDR, der BRD und dem wiedervereinten Deutschland auf dem Dokumentarfilm-Festival 2021. Begleitet werden die Filmvorführungen vor Ort von Experten-Gesprächen in insgesamt sechs ausgewählten Filmblöcken (Programm).
Erinnerungskultur? Der Umgang mit NS-Vergangenheit
In Begriffen wie „Kollektivschuld“ oder „Geschichtsvergessenheit“ spiegeln sich heute moralische Fragen, Anklagen und Kritik am Umgang mit dem Nationalsozialismus Jahrzehnte nach Kriegsende wider. Der Aufarbeitung der Verbrechen im Dritten Reich sowie der Shoa wurde nach 1945 nur zaghaft angenommen. In der BRD setzte sich meist Verdrängung, in der DDR der Antifaschismus als Parole zur Abwendung von der Vergangenheit durch. Wie fand also Erinnerungskultur in Ost und West statt? Die sechzehn Filme der „Retrospektive“, produziert zwischen 1944 und 2009, widmen sich dem Umgang mit den Verbrechen des Nationalsozialismus in der DDR und BRD. Gefördert wurde die „Retrospektive“ von der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED Diktatur und dem Deutschen Rundfunkarchiv.
Filmauswahl aus West und Ost
Im Programm läuft unter anderem ein Fragment des 1944 von den Nazis in Auftrag gegebenen Propagandafilms „Theresienstadt. Ein Dokumentarfilm aus dem jüdischen Siedlungsgebiet“. Rund 17 Minuten des eigentlich 90-minütigen Filmes, der zahlreiche Häftlinge des Ghettos Theresienstadt zur Mitwirkung zwang, sind zu sehen (mehr zum Propaganda-Film im Spiegel). Auch der weitbekannte Dokumentarfilm „Nuit et brouillard“ (Nacht und Nebel,1955) von Alain Resnais fügt sich sowohl in BRD- als auch in DDR-Fassung in die Filmauswahl. Es ist eine der ersten Dokumentationen, die authentisches Bildmaterial aus dem Holocaust einer Öffentlichkeit präsentierte. „Buchenwald“, DDR-Film 1961 von Günter Weschke, filmt die Eröffnung des Buchenwald-Mahnmals, bei der Gedenken an Jüd:innen kaum Beachtung fand. Die Doku „Memento“ (DDR) von Karlheinz Mund hält 1966 dahingegen Aufnahmen jüdischer Friedhöfe zum Gedenken der ehemaligen Mitbürger:innen in Berlin fest.
Das vollständige Programm der „Retrospektive“ ist online auf der Webseite der DOK Leipzig zu finden.
„Bildungsstand westdeutscher Schüler in den 50er Jahren“
Ein beispielhaftes Abbild der Geschichtsvergessenheit und Verdrängung gibt die Fernsehdokumentation „Bildungsstand westdeutscher Schüler in den 50er Jahren“ von Jürgen Neven du Mont. 1959 besucht er für den Hessischen Rundfunk insgesamt zwölf Oberklassen von Gymnasien, Mittelschulen, Volksschulen und Berufsschulen in unterschiedlichen Bundesländern der BRD. Aufrecht, still und zuweilen eingeschüchtert sitzen die Schülerinnen und Schüler bei der Fragerunde im Klassenraum. Zu Adolf Hitler und dem Nationalsozialismus, Widerstand und DDR haben die meisten nur minder zufriedenstellende Antworten. Angesichts dessen spricht Neven du Mont folglich von „Verlorener Jugend“ und blickt kritisch auf die Zukunft, würde sie gesellschaftspolitisch von dieser jungen Generation vorangetrieben.
Unwissende Jugend oder Fehler im System?
Doch was sagt die Unwissenheit der Schülerinnen und Schüler in diesem Fall über die Erinnerungskultur in der BRD aus? Gegen Ende der Fernsehdokumentation zeigt sich, dass sich die Heranwachsenden sehr wohl für die Vergangenheit interessieren. Jedoch scheinen Aufarbeitung im Elternhaus sowie im Schulunterricht Ursache des Problems zu sein. „Zu wenig Zeit für zu viel Stoff“ bemängeln die befragten Lehrenden im Film. – Eine Fernsehdokumentation, die (ohne Anspruch auch Repräsentativität) den Bildungsstand der westdeutschen Jugend von 1959 aufdeckt. Sie macht nicht nur die Unwissenheit sichtbar, sondern lässt einem beim Zusehen auch hinterfragen: Wer trägt die Verantwortung für (Un-)Wissen? Welche Vergangenheit zehrt an den Lehrenden? Und, was ziehen wir daraus für unsere heutige Geschichtsvermittlung?
„Bildungsstand westdeutscher Schüler in den 50er Jahren“ am 30.10.2021 um 18:00 Uhr in Passage Kinos Wintergarten.
„Die Judengasse“ – SWR-Dokumentation von Peter Nestler
Eine weitere Retrospektive bietet die Doku „Die Judengasse“ von dem zeitkritischen – und vermehrt linksorientierten – Dokumentarfilmer Peter Nestler. Oft wurden seine Produktionen für die TV-Ausstrahlung von Sendern abgelehnt. 1988 jedoch strahlte der SWR die besagte Doku als Erinnerungsstück jüdischen Lebens in Frankfurt im Fernsehen aus. Aufhänger des Films ist die 1987 in Fahrt gekommene Debatte um den ehemaligen Börneplatz in Frankfurt. Der Platz wird zum Ebenbild des Umgangs mit der jüdischen Vergangenheit in Deutschland.
Der Börneplatz-Konflikt: Sichtbarkeit jüdischen Lebens?
Der Börneplatz in der Frankfurter Innenstadt hat eine lange Vergangenheit. 1462 wurde an seiner Stelle die Judengasse errichtet, um Jüd:innen von den übrigen Stadtbewohnenden abzugrenzen. Bis 1811 blieb die Straße Zwangswohnsitz von Juden. Nachdem 1860 die Häuser abgerissen wurden, wird die Gasse 1885 zur Börnestraße. Mit der Börneplatzsynagoge wird der Ort danach zum Zentrum für jüdisches Leben in Frankfurt, bis der Platz mit den Nationalsozialisten und letztlich den Bombenangriffen im Zweiten Weltkrieg völlig verschwindet. 1987 werden bei Grabungen für einen Stadtwerke-Bau am ehemaligen Börneplatz Fundamente von 19 Häusern der einstigen Judengasse entdeckt. Nach Protesten zum Erhalt beschloss man schließlich den Bau eines Museums, das die Überreste erhält und bewahrt – das heutige Museum Judengasse.
Dokumentation „Die Judengasse“ als Denkmal
Peter Nestler verweist in seiner Dokumentation auf die Bedeutung historischer Bauten und Denkmäler für die deutsche Erinnerungskultur. Mithilfe eines historischen Abrisses zur Entstehung der Judengasse, Archivaufnahmen und seinem kritischen Kommentar, ordnet er das jüdische Leben am Beispiel von Frankfurt als elementaren Teil deutscher Geschichte ein. Als die Kamera auf einen jüdischen Friedhof hält, betont er: „Hier liegen viele, die Frankfurt groß gemacht haben“; Jüdinnen und Juden, die durch Schenkungen und Stiftungen bis heute erhaltene öffentliche Einrichtungen förderten. Die Synagoge wird zum Bunker, an das ehemalige Wronker Kaufhaus auf der Frankfurter „Zeil“ erinnert nichts mehr. Wie präsent ist jüdisches Leben? – Ein Appell von 1988, die jüdisch-deutsche Geschichte öffentlich zugänglich und sichtbar zu bewahren.
„Die Judengasse“ am 31.10.2021 um 18 Uhr in Passage Kinos Wintergarten.