Er ist da. Werner Herzog. In Leipzig. Der in Amerika lebende, aus Deutschland stammende und weltweit bekannte Filmemacher Werner Herzog bestimmte den Start des diesjährigen Leipziger DOK Festivals und traf erwartungsgemäß auf ein immenses Interesse des Publikums. Gerade auch bei jüngeren Filmemacherinnen und Filmemachern, die gerne seine Ratschläge haben wollen, wie man heute als Filmemacher existieren kann. Einen neuen Film hatte Herzog auch dabei, den am Eröffnungsabend 2000 Zuschauer auf einmal sehen konnten.
Zusammen mit André Singer hat Werner Herzog »Meeting Gorbachev« gedreht – der Dokumentarfilm eröffnete das Leipziger Festival. Der Film im Cinestar in zwei Sälen und parallel in der Osthalle des Hauptbahnhofs – ein besonderes Erlebnis, das Herzog erklärtermaßen imponierte. Er hatte also zum Start rund 2000 Zuschauer. Herzog macht in seinem Film aus der Verehrung für Michaeil Gorbatschov, für dessen Visionen und seinen Mut zur Reformierung des Kommunismus mit Glasnost und Perestroika und der Ende des Kalten Krieges keinen Hehl. Auch der Rückzug aus Afghanistan, die Verträge zum Abbau des gefährlichen Atomwaffenpotentials und die deutsche Wiedervereinigung sind unbestritten große Leistungen dieses Politikers, der 1990 den Friedensnobelpreis erhielt.
Der heute kranke und einsame Mann kann seine Version der Geschichte erzählen. So ist Herzogs Film vor allem die Würdigung eines Denkmals zu Lebzeiten. Verschiedene Interviews in einer sehr artifiziellen Atmosphäre in der Gorbatschov Stiftung wechseln mit historischem Archivmaterial, das mit viel Mühe gefunden werden musste und Interviews mit einigen ausgewählten Gesprächspartnern. Der Film, eine Koproduktion vom MDR mit History, konnte allerdings die hohen Erwartungen nicht erfüllen. Die Machart ist sehr konventionell. Nur in einigen Sequenzen findet Herzog zu seiner Stärke, beispielsweise wenn er die kurz hintereinander stattfindenden Beerdigungen der Vorgänger Gorbatschovs (Leonid Breschnew, Juri Andropov und Konstantin Tschernenko) als immer gleiches Zeremoniell entlarvt. Allerdings wird nicht klar, wie Gorbatschov letztlich an die Macht kam. Er kritisiert ironisch den ORF, dass er als Hauptmeldung des Abends nicht über die Öffnung der Grenze zwischen Ungarn und Österreich berichtet, sondern vom Kampf der Kleingärtner mit Schnecken, die man in Bier ertränken soll. Auch der Versuch des sowjetischen Fernsehens, Gorbatschov live zu drehen bei der erzwungenen Verzichtserklärung seiner Präsidentschaft hat realsatirische Züge.
Selbst wenn Herzog die Gespräche mit Gorbatschov weniger als Filmemacher oder Journalist führte, sondern als Dichter, kommt er ihm doch nicht richtig nahe. Dies merkt man bei der Gesprächspassage zum Tod von Ehefrau Raissa. Selbst mit beharrlichem Nachfragen löst Herzog nicht die gewünschten emotionalen Reaktionen aus. Deshalb greift Herzog zu einem Ausschnitt eines Films von Vitaly Mansky, der Gorbatschov vor fast 20 Jahren bei einem Besuch in seinen Heimatort interviewt und dabei eine große Nähe entwickelt. Die Stärke dieses Films ist Herzog sehr bewusst und er lobt seinen russischen Kollegen in höchsten Tönen. Mansky, ein Stammgast in Leipzig, zeigt dieses Jahr übrigens »Putin’s Witnesses«.
Insgesamt zeigt Herzogs Porträt einen Michail Gorbatschov als tragische Figur, der den Kommunismus reformieren wollte, aber damit den Zerfall der Sowjetunion auslöste. Deshalb sehen ihn viele im heutigen Russland als Volksverräter und entsprechend isoliert ist er auch. In seiner Einführung betonte Herzog, dass Russland der natürliche Partner Europas sei und die Mystifizierung durch die Medien ein Ende haben sollte. Der Film wird im deutschen, amerikanischen und internationalem Fernsehen gezeigt und in den USA auch im Kino gezeigt.
Am Tag nach der Öffnung gab es dann noch ein Gespräch mit dem Meister, kompetent moderiert von Kristina Jaspers von der Deutschen Kinemathek, zu dem rund 500 Interessierte – meist jüngere Leute – strömten. Hier wurde Herzogs Lebenswerk gewürdigt und der Maestro gab einige Tipps zum Filmemachen, dass durch die Digitalisierung viel einfacher geworden sei. Einen Dokumentarfilm könne man heute für 1000 € drehen. Zum Teil drehe er seine Filme inzwischen selbst und würde sich dann Fantasienamen für den Kameracredit einfallen. Diese neuen Möglichkeiten wären eine große Chancen. Wenn man eine gute Idee habe, sollte man daran auch gegen alle Widerstände festhalten ermutigte er seine Zuhörer. Seine alten Interviews würden ihn nicht interessieren, sie sollten in die Zukunft schauen. Er habe keine spezielle Technik für Interviews. Er nutze kaum das Internet, habe kein Smartphone und sehe eigentlich nur ein paar Filme im Jahr, die meist schlecht wären. Dagegen sei es wichtig, viel zu lesen. Und er könne nur empfehlen, viel zu laufen, was er Reisen zu Fuß nennt.
Einmal ist Herzog beispielsweise einmal rund um Westdeutschland gelaufen, als die deutsche Politik die Wiedervereinigung schon aufgegeben habe. Beim Laufen komme man mit Leuten in Kontakt und mache wichtige Erfahrungen. Fakten würden keine Wahrheit schaffen, sondern sie müsse man finden. Er verhandelt seine Verträge immer selbst und lasse sich größtmögliche Kontrolle zusichern. Er ist weiterhin ein viel beschäftigter Filmemacher und übernimmt ab und zu auch Rollen als Schauspieler, in den er oft den Fiesling spielt. »Meeting Gorbachev« habe er im August fertig gestellt und habe inzwischen schon zwei weitere Filme gedreht. Das Gespräch bot die Chance, der Legende Herzog näher zu kommen.
Bei der Eröffnung hob Festivaldirektorin Leena Pasanen hervor, dass sie im vergangenen Jahr eine Quote für Frauen angekündigt habe. Dies habe man in diesem Jahr bereits erreicht, in dem 45% der Einreichungen von Frauen stammten und die in den Wettbewerben gezeigten Filme nahezu gleichermaßen von Männern und Frauen gedreht wurden. Im Deutschen Wettbewerb sind sogar sechs von neun Filmen von Frauen. Sie würde sich freuen, dass andere Festivals jetzt ebenso handeln würden. Im Moment würden die großen Festivals sehr um die guten Filme konkurrieren und jeder würde Premieren ankündigen. Hier empfiehlt sie in Zukunft mehr Gelassenheit. Insgesamt laufen in Leipzig 306 Filme aus 50 Ländern.
Dr. Skadi Jennicke, Bürgermeisterin und Beigeordnete für Kultur der Stadt Leipzig, betonte die Rolle von DOK Leipzig als vermittelnde, kulturelle Institution: „Das Festival bietet uns die Chance, in vielen Ländern genauer hinzusehen, deren Gegenwart und Vergangenheit zu erkunden und besser zu verstehen. Diese Einlassung auf komplexe Zusammenhänge und die Suche nach Wahrheiten sind heute wichtiger denn je. Dafür steht das Festival, das längst zu einer kulturellen Instanz der Stadt geworden ist, die international ausstrahlt.“