Die Entscheidung ist gefallen: Den vom rbb mit 40.000 Euro dotierten Dokumentarfilmpreis gewinnt ein Filmkollektiv für seinen beeindruckenden Film „Myanmar Diaries“. Insgesamt waren 18 Produktionen aus allen Sektionen 2022 für den Preis nominiert.
Gegenöffentlichkeit: „Myanmar Diaries“ (Panorama)
Beim Berlinale Dokumentarfilmpreis hat sich die dreiköpfige Jury für einen politischen Film entschieden, der das Publikum aufrütteln will. Erklärtermaßen soll mit „Myanmar Diaries“ noch einmal auf die politische Situation und Unterdrückung in Myanmar aufmerksam gemacht werden. Denn ein Jahr nach dem Militärputsch ist das Geschehen aus den internationalen Nachrichten so gut wie verschwunden. Neben Footage von der Niederschlagung von Protesten und willkürlichen Verhaftungen zeigt das Werk des anonym bleibenden „Myanmar Film Collective“ sehr gut den Alltag der für ihre Rechte und Demokratie kämpfenden Bevölkerung.
Patricia Schlesinger, Intendantin des Preisstifters Rundfunk Berlin-Brandenburg, versteht die Auszeichnung bei den 72. Internationalen Filmfestspielen Berlin zugleich als „Würdigung der Unerschrockenheit der Filmemacherinnen und Filmemacher“, die den Widerstand und den Kampf um Menschenrechte junger Oppositioneller auf die Kinoleinwand bringen.
Die Jury vergab zudem eine „Lobende Erwähnung“ an „No U-Turn“ (Panorama). Ike Nnaebue zeigt darin eindringlich die Situation von afrikanischen Flüchtlingen auf der Busroute von Westafrika nach Marokko. Viele bleiben in einem der Länder hängen und versuchen sich dort durchzuschlagen. Zurück können sie nicht mehr, wenn sie nicht die erhofften Reichtümer mitbringen können. „No U-Turn“ ist ein Film, der die Flüchtlingsfrage aus einer anderen Perspektive erzählt.
Totalitäre Systeme: „Everything will be ok“ (Internationaler Wettbewerb)
Von anderen Jurys wurden ebenfalls dokumentarische Produktionen ausgezeichnet. Im Internationalen Wettbewerb erhielten Rity Panh und Sarit Mang einen Silbernen Bären für ihre „Herausragende künstlerische Leistung“ in „Everything will be ok“. Mit Dioramen und viel historischem Archivmaterial zeigt der Film die Geschichte des 20. Jahrhunderts. Da sie so zerstörerisch war, übernehmen Schweine und Affen die totalitäre Herrschaft.
Besetzungscouch: „Mutzenbacher“ (Encounters)
In der Sektion Encounters zeichnete die dreiköpfige Jury Ruth Beckermann aus – ihr Dokumentarfilm „Mutzenbacher“ wurde als „Bester Film“ gewürdigt. Sie beeindruckte der minimale Stil, mit der es der Regisseurin gelinge, eine komplexe Reflektion über Sexualität und Geschlechterverhältnis zu schaffen. Männer unterschiedlichen Alters sind zu einem Casting für die angebliche Verfilmung des Skandalromans „Josefine Mutzenbacher. Die Geschichte einer Wienerischen Dirne von ihr selbst erzählt“ (1906) eingeladen und sollen einzelne Passagen daraus vorlesen. Daraus entspinnen sich Gespräche, die grundsätzliche Meinungen und Einstellungen offenbaren.
Der Spezialpreis dieser Jury ging an Mitra Farahani für den Film „À Vendredi, Robinson“. Sie zeigte sich bewegt vom Aufeinandertreffen Jean-Luc Godards und Ebrahim Galestans aus dem Iran, zwei Poeten im Herbst ihres Lebens.
Schmerzliche Erinnerungen: „Alis“ (Generation)
Die fünfköpfige Jugendjury der Generation 14plus vergab den Gläsernen Bären an Clare Weiskopf und Nicolás van Hemelryck für „Alis“. „Ein bewegender Film, der mit einfachen Mitteln eine unglaubliche Nähe und Intimität schafft. Auf behutsame Art und Weise werden die Protagonistinnen und auch das Publikum mit Schmerz und Erinnerung konfrontiert“, so die Begründung. Der Große Preis für den besten Film (7.500 €) ging ex aequo an das dokumentarische belgische Beziehungsdrama „Kind Hearts“ von Olivia Rochette und Gerard-Jan Claes und „Skhema“ von Farkhat Sharipov. Der Regisseur zeigt dort die Sehnsüchte und Abgründe der neureichen Kasachischen Gesellschaft.
72. Berlinale mit starkem Dokumentarfilm-Jahrgang
Insgesamt war das Programm der 72. Berlinale mit rund 50 dokumentarischen Produktionen ein sehr starker Jahrgang mit sehr unterschiedlichen Handschriften und Themen. Diese repräsentierten die beeindruckende Bandbreite des Genres. Auch wenn die Kinos oft weniger als halbvoll waren, entwickelte sich doch so etwas wie ein Festivalgefühl. Nur die persönlichen Begegnungen fielen in diesem Jahr Corona zum Opfer, da die Berlinale auf das sonst übliche Rahmenprogramm weitgehend verzichtete.