Vierzehn Monate lebte Antonia Kilian in Nordsyrien. Die Filmemacherin hatte 2016 beschlossen, den Freiheitskampf kurdischer Frauen zu dokumentieren – derjenigen, die sich bewaffneten Milizen anschließen. Die DOK Premiere von „The Other Side of the River“ verriet mehr über ihre Beweggründe.
Nachrichtenbilder als Auslöser
Auslöser für Antonia Kilians Reise waren die Fernsehbilder von der Befreiung der Stadt Manbidsch. Zu Beginn von „The Other Side of the River“ erzählt sie im Off: „Frauen in Burkas rennen zu den kurdischen Kämpferinnen. Sie ziehen ihre Burkas aus. Darunter kommen bunte Kleider zum Vorschein. An diesem Tag entschloss ich mich, dass ich nach Manbidsch gehen will.“ Doch auch unter der neuen Herrschaft bleibt Manbidsch gefährlich – vor allem wegen der Spannungen zwischen Kurden und Arabern.
Die Regisseurin kommt zunächst in Rojava unter, im autonomen Westkurdistan. In einer Polizeiakademie für Frauen trifft sie nach einem Monat Recherche die junge Hala, ihre Protagonistin. „Meine Idee war, eine Frau in ihrer Ausbildung zu begleiten und zu sehen, wie die Ideologie der Freiheitsbewegung in der Realität umgesetzt wird“, erzählt Antonia im Publikumsgespräch bei der DOK Premiere. „Ich hatte schon immer im Kopf, dass ich einen Film über die kurdische Frauenbewegung drehen will?“ Antonia war mit ihrer Kamera zuvor schon einige Male in den kurdischen Gebieten der Türkei unterwegs. „Das war im Grunde die Vorbereitung für den jetzigen Film.“
Dreharbeiten ohne Netz und doppelten Boden
Die erste Begegnung mit Hala in Rojava ist mit der Kamera dokumentiert. Die Protagonistin und andere Polizeianwärterinnen sitzen im Kreis, zu diesem Zeitpunkt ist die Regisseurin noch mit einer Übersetzerin unterwegs. „Ich habe dann angefangen, ein bisschen Kurdisch zu lernen, also zumindest ausreichend für eine Basiskommunikation“, berichtet Antonia. Für tiefere Diskussionen reicht es nicht, trotzdem macht Antonia die meisten Drehs bald ohne Übersetzerin. „Ich konnte nur so arbeiten; ich war allein dort unten und hatte ja auch kein Geld.“ Sie kann bei einer kurdischen Freundin wohnen, die für ein Filmkollektiv arbeitet. „Nach dem Dreh, wenn ich nach Hause kam, haben wir gemeinsam das Material gesichtet und sie hat mir dann gesagt, was ich da eigentlich gedreht habe und was die Leute vor der Kamera sagen.“
Antonias Protagonistin stammt aus Manbidsch, aus einer arabischen Familie, der Vater ist streng und konservativ. Viele Männer aus der Verwandtschaft, sagt Hala im Film, waren beim IS. „Eines Abends, als ich wie immer in der Polizeiakademie war, nahm mich Hala mit und sagte, ich solle jetzt drehen.“ Hala setzt sich zu ihren Freundinnen und erzählt, was sie zuhause in der Nachbarschaft gesehen hatte. Der IS zwingt eine Familie, eine Frau zu steinigen. Hala schildert, wie die Kinder nur kleine Steine nehmen, sie wollen nicht verletzen. Nur der Vater wirft schwere Steine, weil er das Leid seiner Tochter verkürzen will. „Erst eine Woche später“, so Antonia, „habe ich erfahren, was in dieser Szene gesagt wurde.“
Die Welt der Rebellinnen
Vor dem Hintergrund solcher Erlebnisse lassen sich manche Parolen der militanten Kurdinnen in „The Other Side of the River“ leichter einordnen. „Ich glaube nicht mehr an die Idee von Ehe und Liebe, verspreche, dass ich mich für unsere Aufgabe aufopfern werde“, schmettern sie, oder Ausbilderinnen schärfen ihnen ein: „Sexuelle Begierde führt die Menschheit in den Abgrund“.
Antonia begleitet ihre Protagonistin mit der Kamera auch nach Manbidsch zurück zur Familie. Zwölf Kinder, zehn davon sind Töchter. Der Vater sieht seine Aufgabe darin, sie ordentlich zu verheiraten, am besten mit Männern aus der Verwandtschaft. Die Mutter übt sich in Güte, Duldsamkeit und Schweigen. Hala will ihre Schwestern „befreien“ und mit ins autonome Rojava nehmen. In „The Other Side of the River“ berichtet Antonia im Off, dass ihre Protagonistin eines Tages verschwunden war. Sie war in Haft. Hala war nämlich mit Kalaschnikow und Handgranate bewaffnet ins Haus ihres Vaters eingedrungen. Nach der Haftentlassung fliegt sie aus dem Polizeidienst. „Wir sind noch hin und wieder per WhatsApp in Kontakt. Hala lebt noch immer dort, sie ist nicht zur Familie zurück, auch nicht verheiratet. Sie hat einen anderen Beruf gefunden und versucht, so unabhängig wie möglich zu sein.“
Keine Heldin für westliche Rebellenromantik
„The Other Side of the River“ ist Antonias erstes Langprojekt nach dem Studium an der Filmhochschule Potsdam-Babelsberg. Zu seinen Stärken gehört neben einer großartigen Kamera, dass die Regisseurin weder die Situation im Krisengebiet einordnet noch das bisweilen verstörende Verhalten ihrer Protagonistin kommentiert. „Ich habe versucht einen Film zu machen, der offen bleibt und all die Fragen mittransportiert, die ich auch selbst während der ganzen Zeit mit mir getragen habe,“ erklärt Antonia bei der DOK Premiere.
Sie vermutet, dass Halas Behauptung, ihr Vater sei ein Spion des IS, möglicherweise Denunziation ist. „Wir hatten nicht den Eindruck, dass er ein überzeugter Islamist ist, eher ein Assad-Anhänger. Aber wir wissen nicht, wie das in den drei Jahren unter dem IS war. Ich habe mir manchmal versucht vorzustellen, wie es in Deutschland nach 1945 war, als man sich gefragt hatte, wer war Mitläufer, wer war Täter, wie waren die Verbindungen zwischen dem Naziregime und der Bevölkerung.“ Antonia Kilian hat zwei neue Projekte in Recherche, eines davon wird sie wieder nach Nordsyrien führen. Noch sei es zu früh, Details zu verraten, sagt sie auf Publikumsnachfrage. „Aber ich gehe auf alle Fälle zurück.“
alle Fotos © Günther Ahner/HDF
Die DOK Premiere ist eine vom Haus des Dokumentarfilms kuratierte Filmreihe. Sie präsentiert einmal im Monat in Ludwigsburg und Stuttgart aktuelle Kinostarts von Dokumentarfilmen. Die jeweiligen Regisseur:innen sind für Werkstattgespräche mit dem Publikum vor Ort. Kuratoren sind Goggo Gensch (Stuttgart) und Kay Hoffmann (Ludwigsburg).
Antonia Kilians „The Other Side Of The River“ (JIP Film und Verleih) war am 24. Januar 2022 im Caligari Kino Ludwigsburg und am 25. Januar 2022 im Arthaus Kino Delphi zu sehen.